|
Frust ob des Lebens Langeweile
Ein morbider Charakter eignet diesen Figuren, denn sie wissen nicht, was sie tun sollen. England hat gerade vor einem Jahr den Usurpator Napoleon endgültig verjagt, jetzt können die Menschenreste und Reliquien des Sieges bei Waterloo besichtigt und eingesammelt werden. Ihr Lebensüberdruss kollidiert mit der Sinnsuche, ihr Snobismus mit dem Willen zu schöpferischem Tun, ihre Konventionen mit Libertinage. Bedrückende Bilder werden dafür am Hessischen Staatstheater Darmstadt entwickelt (Bühne: Dirk Becker), wenn die Oper Lord Byron des katalanischen Komponisten Agustí Charles ihre Uraufführung als Koproduktion mit den Opernhäusern Barcelona und Madrid in Katalanisch mit deutschen Übertiteln erlebt.
Die Figuren irren, ja stolpern durch die Welt. Von Waterloo zur Burg Frankenstein bei Darmstadt, dann an den Genfer See und letztlich irgendwohin Richtung fiktives Niemandsland. In unseliger Konstellation sind Lord Byron (Gerson Sales als neutönerischer Counter), der Arzt Polidori (Malte Godglück), Percy Shelley (Norbert Schmittberg), William Fletcher (Lasse Penttinen), Mary Wollstonecraft Godwin (Muriel Schwarz) und Claire Clairmont (Margaret Rose Koenn) aneinander gekettet. Sie alle wollen ausprobieren, was nach der Befreiung von repressiver Gesellschaft Lebensinhalt sein könnte. Freie Liebe, Okkultismus, (homo)erotische Abenteuer, Romane schreiben, Philosophieren über Wissenschaft, Naturbeglückung, Reisen irgendwohin?
Librettist Marc Rosich hat dafür seltsam in sich gekehrte Texte entwickelt, deren Statik von Bühnenbild, Kostümen (Gabriela Salaverri) und Personenführung (Alfonso Romero Mora hat die Uraufführung in Szene gesetzt) gespiegelt und reflektiert wird. Dieses System allerdings erschöpft sich, wenn die kulturpessimistischen Ideen der Protagonisten in szenische Langeweile umschlagen, obwohl die Titelfigur „Lord Byron“ gewisse Aktivitäten entwickelt, denn dieser Anführer straft und manipuliert vorwiegend durch Liebesentzug. Die kompositorischen Kräfte von Antoní Charles münden in eindrucksvollen, hintergründigen Chorszenen (André Weiss studierte Chor und Extrachor bemerkenswert gut ein) und implodierenden Orchesterflächen, die gegeneinander gesetzt werden, sich mit viel Schlagwerk aufschaukeln und in tektonischen Verschiebungen einige Wirkung erzeugen. Als Werkzeug war das Staatsorchester Darmstadt aufmerksam und voller Energie unter der Leitung von Martin Lukas Meister.
Dennoch blieb beim Premierenpublikum in den nach der Pause stark gelichteten Reihen kaum mehr als höflicher Applaus.
Eckhard Britsch
|
|