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Fakten zur Aufführung 

DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN
(Helmut Lachenmann)
18. September 2013
(Premiere am 14. September 2013)

Ruhrtriennale,
Jahrhunderthalle Bochum


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Mit dem Ohren schauen, mit den Augen hören

Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern gehört zu den raren Werken des zeitgenössischen Musiktheaters, die seit der Uraufführung eine konstante und wirksame Präsenz auf den Opernbühnen gezeitigt haben. Der Uraufführung 1997 als Auftragswerk von Peter Ruzicka an der Hamburgischen Staatsoper in der Regie von Achim Freyer folgen Aufführungen in Tokio, Stuttgart, Paris, Salzburg, Wien und Berlin. Die Leitungsteams waren jeweils illuster: Dirigenten wie Lothar Zagrosek oder Sylvain Cambreling, die das Werk auch auf CD einspielen, Regisseure neben Freyer, Alfred Kirchner, Peter Mussbach oder zuletzt David Hermann in Berlin. An diese doch schon bedeutende Tradition schließt sich die Neuproduktion der diesjährigen Ausgabe der Ruhrtriennale sicherlich nahtlos an. Der seit Jahrzehnten mit allen Wassern der Neuen Musik gewaschene Emilio Pomàrico leitet das groß besetzte Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks und das ChorWerk Ruhr. Hinzu kommen mit Mayumi Miyata als Shô-Spielerin, den Pianistinnen Tomoko Hemmi und Yukiko Sugawara sowie den Solo-Sopranistinnen Yuka Kakuta und Hulkar Sabirova langjährige und ausgewiesene Lachenmann-Expertinnen. Als Regisseur, Bühnenbildner und Lichtdesigner wirkt Robert Wilson, der zusammen mit Angela Winkler auch als Darsteller agiert. Die Kostüme stammen von Eva Dessecker. Der Erfolg der Bochumer Produktion ist schon im Vorfeld sensationell: fast alle sechs Aufführungen sind nahezu oder ganz ausverkauft, die Ruhrtriennale führt Wartelisten für die nicht zum Zuge gekommenen Interessenten.

Diese Erfolgsgeschichte ist umso erstaunlicher, als es sich um ein extrem sperriges Werk handelt. Lachenmanns erste Oper ist ein komplexes, geradezu widerständiges, jede Opernattitüde verweigerndes Stück, in Lachenmanns Worten ein Produkt einer streng auskonstruierten Verweigerung. Es ist mit rund 100 Musikern opulent besetzt. Es sprengt im Opernhaus den konventionellen Rahmen, da Teile der Instrumentalisten aus dem Graben in Saal und Logen ausgegliedert werden. Es verweigert den orchestralen Sound, wenn Instrumente mit neuen Spielanweisungen auf dem Weg zu ungehörten Klängen zur musique concrète instrumentale werden. Es lehnt Arien und Duette, Gesang und singende Darsteller überhaupt ab, womit auch die übliche handlungskonstituierende Komponente fehlt. Lachenmann geht zwar von Texten aus – namentlich Hans Christian Andersens traurigem Märchen Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von 1845, Gudrun Ensslins Brief aus Stammheim von 1973 und Leonardo da Vincis Textfragment Zwei Gefühle/due cose, das zwischen 1478 und 1518 entstanden ist – vertont diese aber nicht im Vokalen, sondern vornehmlich im rein Instrumentalen. Die Texte erscheinen als musikalische Handlung in der Textur des Orchestralen, nur selten tauchen sie erkennbar im Werk auf. Partiell werden sie fragmentarisch zugespielt, mal sind sie zur Unkenntlichkeit entstellt oder werden wie das da-Vinci-Fragment rezitiert. Das Orchester übernimmt gleich am Anfang mit kalten Klängen, tonlosen Streichern und Luftgeräuschen die Szene, es ist eben Musik in Bildern, wie sich das Werk im Untertitel nennt. So hat sich immer schon die Frage gestellt, inwiefern Lachenmanns Oper überhaupt eine szenische Realisation erfordert.

Robert Wilson fasst diese Konstellation als große Freiheit auf, einer Freiheit, der er sich mit Sorgfalt verpflichtet fühlt. Er baut für die Inszenierung in der Bochumer Jahrhunderthalle einen quadratischen Raum, dessen vier Ränge wie in einem Lehrsaal der Anatomie an allen Seiten steil aufsteigen. In der obersten Reihe, also über dem Publikum, sind Orchester und Solisten platziert, das Quadrat in der Mitte dient Robert Wilson, Angela Winkler und der Statisterie der Ruhrtriennale als Spielfläche. Ziel sei, eine gewisse visuelle Transparenz zu erzeugen, eine Konzentration zu schaffen, die dem Zuschauer hilft, die Musik zu hören. Und die akustischen Bedingungen sind wirklich überwältigend: Es entsteht der von Lachenmann gewünschte durchhörbare Raumklang. Man ist als Besucher inmitten der Welt der geräuschhaften Klänge, kann wachsam und beobachtend hören, besser, als es in jedem Opernhaus möglich wäre. Dirigent, Orchester und Solisten sind ihrer Sache so sicher, als hätte man nie anders gespielt. Unvergesslich.

Anders steht es jedoch mit der Inszenierung. Robert Wilson möchte Ereignisse mit einer Raum-Zeit-Konstruktion abstrakt ins Verhältnis zur Musik setzen, ohne dabei eine romantische Erzählung der Geschichte zu liefern. Wilson und Winkler bebildern als Darsteller die Tableaus der Oper mit einer Duo-Pantomime, die ganz fern ist von den Frei- und Feinheiten der Musik: Winkler im weißen Kinderkleid, am Ende kurz gedoubelt von einem identisch gekleideten Mädchen, und Wilson im schwarzen Anzug, mal Magier, mal Dompteur, mal Killer, auch bedrohlicher Übervater, immer im Nacken, im Rücken der Frau. Die Bewegungen und die fast ritualartigen Gänge sind mal unendlich langsam, mal schnell, kantig, bei Wilson auch unsauber, unklar – kaum im Kontext des Musikalischen. Die bildnerischen Mittel, kaltes Neon, oft in abrupten Hell-Dunkel-Wechseln, Videoeinblendungen, Eisberge oder Nebel illustrieren, doppeln die Atmosphäre vom kalten, schneereichen Sylvesterabend. Die Requisiten – Bänke, Hocker, Tisch, Plastikfelsen – von Statisten hereingetragen, von der Decke herabgelassen, sind von geradezu bedeutungsloser Redundanz: All das verfehlt Lachenmanns intensive Musik, wie auch den sentimentalen, auf Mitgefühl setzenden Ansatz Andersens, den rebellischen Gestus Ensslins oder den erkenntnissuchenden Geist da Vincis. Musik hat Sinn doch nur, insofern sie über die eigene Struktur hinausweist auf Strukturen, Zusammenhänge, das heißt: auf Wirklichkeiten und Möglichkeiten um uns und in uns selbst“, schreibt Lachenmann 1979 in den Vier Grundbestimmungen des Musikhörens. Von diesen Wirklichkeiten und Möglichkeiten weiß die Inszenierung nicht zu berichten.

Das Publikum reagiert mit großer Begeisterung – ein überwältigender Jubel für Musik und Inszenierung und auch für den der Aufführung beiwohnenden Helmut Lachenmann.

Dirk Ufermann

Fotos: Julian Mommert, Lucie Jansch