Die Scheinheiligen
Michael Heicks trifft mit seiner lustvollen Inszenierung den Trend unserer Zeit – wie Brecht/Weill anno 1928: Die „Bürger“ sind die „Räuber“, die „Räuber“ suchen die „bürgerliche“ Camouflage. Und das Publikum kommt ins Nachdenken über die schier unglaublichen Finessen der vorherrschenden „Scheinheiligkeit“ unter dem Deckmäntelchen hehrer Ziele – die aber gründen stets in Strategien platter Bereicherung. Heicks vertraut dem ironischen Duktus des Jahrhundertwerks, setzt auf ätzende Satire – ohne konkrete Bezüge zu insinuieren.
Timo Dentler und Okarina Peter bauen eine Londoner Dachlandschaft mit Fluchtwegen und Gelegenheiten zum Verschwinden in obskure Winkel – und stecken die Schauspieler in karikierende Kostüme der Victoria-Zeit: Einer Epoche, die die scheinheilige Doppelmoral des bürgerlichen Lebensgefühls zum Credo stilisierte.
Das Bielefelder Theater präsentiert die „Oper“ als „Schauspiel“ mit pointensicheren Akteuren, die ganz bewusst auf sängerische Brillanz verzichten, dafür die kritischen Texte im epischen Stil vortragen – und dabei erstaunliche Musikalität beweisen.
Bill Murta dirigiert die ungemein flexiblen Musiker zu einem spröden Weill-Klang, mit spannungsgeladener Demonstration musikalischer revolutionärer Kraft – und korrespondiert in den Musik-Passagen mit der aktionsreichen Bühne vortrefflich.
Das vollbesetzte Theater ist größtenteils mit offensichtlich theater-neugierigen Teens bevölkert: Die Stimmung ist blendend, die anschließenden Kommentare pendeln zwischen gelangweiltem „öde“ der Sat1–Zuschauer und der sprühenden Begeisterung der Theater-Aficionados.
Franz R. Stuke
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