Compassion
Eines der großen Verbrechen des Neoliberalismus: die gnadenlosen Zechenschließungen in der nordenglischen Zechenregion in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Existenzen werden vernichtet, es herrschen Entsolidarisierung, kaputte Familien – geopfert auf dem Altar des „Kapitals“.
Mark Hermans Kultfilm von 1996 fokussiert diese soziale Katastrophe auf das Geschehen um die Colliery Brass Band – mit Perspektivlosigkeit, sozialem Elend, Sex und Alkohol, aber nicht „revolutionär“, sondern sozial-ethisch bestimmt.
Paul Allens Bühnenfassung inszeniert Michael Heicks mit großer Sympathie für die erniedrigten Kumpel, im Sinne der Vorlage: compassion no rage.
Auf Timo Dentlers reduziert-historisierender Drehbühne mit schlichtem Wohnraum, Kaue, Lohnhalle und Konzertsaal (das Zechentor zitiert Elemente von Zollern 2/4 in Dortmund) gibt es Raum für nachhaltige Kommunikation. Okarina Peters Kostüme verstärken das Bild einer kleinbürgerlich-hilflosen Opfergesellschaft mit der Hoffnung auf das „Wunder“.
In Bielefeld führt der vielseitig in Sachen Blasmusik kundige Willi Budde ein Ensemble lokaler Trompeter, Tuba-Spieler, Posaunisten, Flügelhorn-Bläser souverän durch die Vielfalt traditioneller englischer Brass Music – durchaus ironisierend, aber auch mit unverfälschtem Pathos. Beeindruckend.
Das Bielefelder Schauspiel-Ensemble präsentiert sich typus-gerecht ambivalent, angeführt vom traditionsbewussten Bandleader Danny des variabel artikulierenden Thomas Wolff und der Flügelhorn spielenden Christina Huckle als Gloria: Akteure mit allesamt viel Empathie für die dargestellten Menschen mit ihren nicht zu bewältigenden existentiellen Problemen – ohne agitatorische Attitüde.
Das Publikum lässt sich auf dieses komisch-tragische Spiel intensiv ein, verfolgt die charakterisierenden Nuancen mit Sympathie, applaudiert der exzellenten Brass Band – und ist offensichtlich froh, nur mit Symbolen des Elends konfrontiert zu werden, und nicht mit dem „kommenden Aufstand“.
Franz R. Stuke
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