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Spiritualität im Kraftwerk
Schön singen, das können viele professionelle Konzertchöre. Doch sich innovativen szenischen Projekten gegenüber zu öffnen, das traut sich kaum einer von ihnen. Beim Rundfunkchor Berlin gehört die Hinwendung zum musiktheatralischen Experiment mittlerweile zum Programm. Bachs Matthäuspassion 2010 und die Johannespassion im Februar dieses Jahres in der Regie von Peter Sellars sowie 2012 Brahms’ unter dem Titel Human Requiem choreografisch umgesetztes Deutsches Requiem waren bisherige Höhepunkte in dieser Reihe. Doch nicht nur Großwerken der Klassik gilt das Interesse, auch Zeitgenössischem räumt der Chor einen gewichtigen Platz ein. So wurde 2006 bei Christian Jost, einem der profiliertesten Komponisten seiner Generation, die Choroper Angst in Auftrag gegeben, in der das Vokalensemble als zentraler Handlungsträger fungierte. Der Komponist ist auch der Schöpfer des jüngsten Coups, dem Musik-Tanz-Theater Lover. Als Inspirationsquelle diente ihm ein Aufenthalt in Taiwan, wo er 2012 als Composer in Residence des National Symphony Orchestra Taiwan lebte und Bekanntschaft mit dem dort ansässigen U-Theatre machte – einem Percussion-Ensemble, deren Mitglieder das Schlagzeugspiel genauso beherrschen wie Tanz, Kampfkunst und meditative Ausdrucksformen. Lover beruht auf der Idee, fernöstliche mit deutscher Kunsttradition zu vereinen. Das fängt bei der Textauswahl an, die zwei populäre chinesische Gedichte mit Versen von E. E. Cummings kombiniert, bei denen sich alles um die Liebe dreht. Und sie setzt sich fort in einer 70-minütigen, sechssätzigen Partitur, die westlich geprägten Chorgesang mit asiatischen Klangwelten und rituellem Bewegungsvokabular verbindet. „Wir nehmen das Beste vom Rundfunkchor Berlin und bringen es zu einer Synthese mit dem Besten vom U-Theatre“, sagt Jost.
Lover findet im stillgelegten gigantischen Kraftwerk Mitte statt, wo noch bis in die 1990-er Jahre hinein Strom hergestellt wurde und das heute ein begehrter Veranstaltungsort geworden ist, der nicht nur den bekannten Techno-Club Tresor beherbergt, sondern auch als beeindruckende Spielstätte dient, etwa für die Staatsopernproduktion von Nonos Al gran sole oder Christoph Hagels Breakdance-Performance Flying Bach.
Den großen Raum braucht das Stück aber auch, um der benötigten riesigen Schlagzeugbatterie den ausreichenden Platz zu verschaffen. Sechzehn Instrumente sind es, die Namen tragen wie Ging, Cloud, Magic oder Monk Gong und vom ersten Moment an den Blick auf sich ziehen. Zunächst noch im Zustand der Ruhe, aber noch stärker, wenn sie von den Schlagzeugern – Frauen wie Männern – in der ausgetüftelten Choreografie von Chih-Chun-Huang bewegt werden. Überhaupt die Schlagzeuger: Sie bedienen ihre Instrumente nicht nur in perfekter Rhythmik und absoluter Konzentration, sondern einige erweisen sich auch im Tanz als Könner, sogar in einem erotischen Pas de deux voller Hingabe und Poesie. Die Choristen sind bei dem Stück szenisch diesmal kaum gefordert und meistens im Hintergrund postiert. Doch wie sie unter der Leitung von Nicolas Fink sechsstimmig die rhythmischen Vertracktheiten und kleinsten Intervalle berückend tonschön, homogen und dynamisch in feinsten Abstufungen singen, ist imponierend. Lover ist ein faszinierendes Gesamtkunstwerk, das asiatische Ästhetik und abendländische Tradition aufs Schönste vereint.
Die drei angesetzten Aufführungen sind ausverkauft und werden mit großer Begeisterung aufgenommen.
Karin Coper
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