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Fakten zur Aufführung 

IL VIAGGIO A REIMS
(Gioachino Rossini)
24. Juli 2014
(Premiere am 17. Juli 2014)

26. Belcanto-Opera-Festival Rossini in Wildbad, Kulturzentrum Trinkhalle


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Europas Spaßgesellschaft am Abgrund

Il viaggio a Reims, 1825 im Pariser Théatre Italien am Vorabend der Krönung von Karl X. zum König von Frankreich uraufgeführt, gilt als die europäische Oper par excellence. Könnte es einen geeigneteren Zeitpunkt für die Rückbesinnung auf die, modern formuliert: erste Eurovisions-Oper geben als jetzt? Jetzt, da die in der EU versammelte europäische Völkerfamilie zwischen einem neuerlichen Rückfall in Nationalstaaten und einer Weiterentwicklung zur wirklichen politischen Union schwankt? Rossinis Einakter, ein grand menue mit neun Gängen, also variierten Nummern von der lyrischen Arie bis hin zum Gran Pezzo concertato a 14 voci, verlangt nichts weniger als 16 Sänger. Nichts weniger als Belcanto-Profis, darunter zehn erste Partien, die selbst der damals gefeierte „Napoleon der Oper“, wie Stendal den Meister aus Pesaro pries, nur insgesamt vier Mal zusammenbrachte. Könnte es mithin für eine neuerliche Einrichtung der alle personalen Dimensionen sprengenden Krönungsoper einen geeigneteren Ort in Deutschland als das Belcanto-Festival Rossini in Wildbad geben? Eben jenes nun schon im 26. Jahr existierende Festspiel im Nordschwarzwald mit seiner angeschlossenen Akademie BelCanto, in der Stars vom Schlage eines Raúl Giménez und andere Große ihres Metiers mit jungen Sängern und Dirigenten arbeiten, um sie für die großen Bühnen zu profilieren? Und könnte es für die Ansetzung des Spektakels um eine Adelsgesellschaft im Wartestand ein noch affineres Publikum geben als jene Rossini-Community, die sich Jahr für Jahr zu den Aufführungsstätten an der Großen Enz aufmacht?

Alle drei Kardinalfragen lassen sich uneingeschränkt bejahen. Mithin können die Rahmenbedingungen für die vom Hausherrn Jochen Schönleber realisierte Inszenierung des Stücks nach Wildbader Maßstäben nur optimal genannt werden.

Der bekannte Musikkritiker Klaus Geitel empfindet das von Luigi Balocchi in ein Libretto gebrachte Geschehen in Plombières Badehotel „Zur Goldenen Lilie“ als „Stück aus dem Tollhaus“. Und genau das ist es auch, was die adelige Sippschaft, ein Ensemble von prototypischen Bonvivants, die jeweils eine der führenden europäischen Nationen des 19. Jahrhunderts repräsentieren, auf der Bühne bietet. Weil die für die Weiterreise zu den Krönungs-Feierlichkeiten nötigen Pferde ausgefallen sind, sieht sich die bunte Truppe urplötzlich als Schicksalsgemeinschaft in ihrem Luxusquartier gefangen. Man macht – Spaßgesellschaft, die sie per se sind – das Beste aus der Kalamität, plündert die Reisekasse, stiftet des guten Tones halber einen Teil für soziale Zwecke und organisiert mit dem übrigen Geld für die Bewohner des Ortes ein Festbankett, um sich zu feiern und dem neuen Bourbonenherrscher zu huldigen. Der Benefit für die Oper und ihre Fans: Rossini wachsen so unendliche Gelegenheiten zu, den diversen Gralshütern der nationalen Eigenart Arien und Duette auf die Stimmbänder zu schreiben, die in der vokalen und orchestralen Überhöhung der deutschen und der englischen Nationalhymne gipfeln. Dazu gibt es beschwingte Ensembles und allerlei Ballett – die Ingredienzen der französischen Oper zu jener und zu späteren Zeiten.

Das mit der Spaßgesellschaft Europas, denen in der Goldenen Lilie eine Bühne gezimmert wird, stimmt nicht uneingeschränkt. Schon Rossini leistet sich in seiner Hommage auf Karl X. allerlei ironische Anspielungen. Schönleber geht in seiner Inszenierung noch einen deutlichen Schritt weiter: „Wir können dieses Geplänkel der Nationen doch 2014 nicht ansehen, ohne an den ersten Weltkrieg zu denken, der vor genau 100 Jahren in fast spielerischer Weise begann.“ Folgerichtig hat er in seine Inszenierung eine Art Doppelbödigkeit einziehen lassen. Einmal die Prosecco- und Bussi-Bussi-selige Ebene der Allüren, der Eifersüchteleien, des Gehabes von Pfauen und Gockeln. Dazu passt exemplarisch eine nachgespielte Szene vom Mallorquiner Ballermann, in der die Akteure gleichzeitig mittels meterlanger Trinkhalme aus Champagnerkübeln schlürfen. Zum anderen die Ebene des sich schon ankündigenden politischen Abgrundes und der militärischen Zerstörung jenes nationalstaatlich gesinnten Europas. Schon fünf Jahre nach seiner Krönung wird der letzte Bourbonenherrscher von seinem Thron gefegt. Andere Monarchien wie die der russischen Zaren folgen. Mit dem Kriegsausbruch 1914 tritt eine ganze Generation eine völlig andere Reise an: Die in den Tod im Schützengraben und der Utopie einer friedvollen Welt. Schönleber zeigt es drastisch: Hinter dem bunten Haufen im Feiertaumel rücken Uniformierte in das Blickfeld, mal mit Stahlhelmen, mal mit Gasmasken bewehrt.

In dieser – Balocchi und Rossini noch fremden – Perspektive gewinnt Schönlebers Sicht auf den alten Kontinent eine ungewöhnliche Aktualität. Die Idee von Europa, gibt der Regisseur zu bedenken, ist auch heute eine extrem fragile Sache, „die man nicht zu leichtfertig sehen darf“. Die Jugoslawienkriege in den 1990-er Jahren, die regionalen Konfliktherde von heute – sind sie nicht, fragt Schönleber sich und sein Publikum, ein unübersehbarer Indikator für die unveränderte Brisanz der nationalstaatlichen Anfälligkeit? Die sich da bei Maddalena im Spa Hotel vergnügen – sind sie nicht voll der Verantwortung für das europäische Haus, gerade heute? Reisen fürwahr müsste es geben, dann aber nach Brüssel oder auch Straßburg, ernsthafte auf Konsens und Verzicht angelegte Unternehmungen. Fallen sie konstruktiv genug aus, sollte es an der passenden Musik nicht mangeln.

So herrlich „passend“ gemacht wird Il viaggio a Reims vom Großaufgebot der 16 Sänger, die sich alle, bei einer Ausnahme, ihren Feinschliff in der Akademie BelCanto erworben haben oder das weiter tun werden. Wie sie die teils wahnwitzigen Anforderungen der Partitur meistern, mit welcher Spielfreude sie auf der nicht gerade großräumigen Bühne im Aufführungsort Trinkhalle agieren, wie sie ihren spezifischen Part mit Intensität, Empathie und Leidenschaft ausfüllen, ist schlicht ein kleines Wildbader Wunder. Dabei mag offen bleiben, was mehr zu bestaunen wäre: die Fähigkeit einer georgischen Sopranistin oder eines argentinischen Baritons, sich in gerade einmal zwei Wochen in die Noten und die jeweilige Rolle einzuarbeiten, oder die vokale Virtuosität jedes Einzelnen von ihnen. Die Arien lassen das Publikum dahinschmelzen, die Crescendi schrauben sich furios ins Fortissimo, das Monumentalstück Gran Pezzo concertato a 14 voci entfaltet einen schier überbordenden Zauber.

Dabei können die „Gestrandeten“, wenn Rossini will, auch ganz verhalten. Arpa gentil, das Sopransolo der Corinna mit inszenierter Harfe, verweist den Tumult in seine Schranken. Für geschlagene sechs Minuten gehört die Szene dem Subtilen, dem Innerlichen, dem Leisen. Endlich einmal haben grobe Töne, wie sie zum Beispiel Bruno Praticò in der Rolle des deutschen Barons von Trombonok bevorzugt, Pause. Der italienische Bassbuffo, Urgestein bei Rossini in Wildbad seit zwei Jahrzehnten, ist der ruhende, zudem gewichtige Pol in der Brandung. Kurios genug, dass ausgerechnet er im Ritornell des Finales mit Pickelhaube die Hymne der Deutschen anstimmen darf, endend mit einem Toast, in den die ganze Truppe genussvoll einstimmt: Viva, viva l’armonia Ch‘è sorgente d’ogni ben/Es lebe die Harmonie, die die Quelle allen Guten ist.

Das so harmonisch gestimmte Publikum feiert den monumentalen musikalischen Apparat mit badischem Enthusiasmus: die auch an diesem Abend glänzend aufgelegten Virtuosi Brunenses und ihren Dirigenten Antonino Fogliani, Wildbads Festivalleiter nun schon im vierten Jahr, den Camerata Bach Chor Poznań, inspiriert und auf Spielfreude getrimmt von seiner musikalischen Leiterin Ania Michalak, sowie das formidable Aufgebot an Sängerinnen und Sängern. Mit dem Spektrum und der Qualität von insgesamt vier Opernproduktionen, darunter zwei konzertanten, und einer ganzen Reihe von Konzerten im wiedereröffneten Königlichen Kurtheater, so eines zur Erinnerung an den legendären Rossini-Tenor Adolphe Nourrit, fällt die Bilanz von Wildbad 2014 insgesamt äußerst erfreulich aus. Ein Riesenkompliment dem ganzen Team des Festivals, das unter alles andere als generösen Bedingungen arbeitet. Manches noch wäre zu sagen, das aber unbedingt.

Ralf Siepmann



Fotos: Patrick Pfeiffer