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Verirrt im deutschen Wald
Irgendwie ist diese Oper schon ein kleiner Schlüsselroman nach dem Motto „Wie lösen wir uns von unserer Mutter?“ Denn Hänsel und Gretel in der gleichnamigen Oper von Engelbert Humperdinck leiden nicht nur unter der bitteren Armut einer Besenbinder-Familie, mehr noch fehlt ihnen Zuwendung. Mutter Gertrud ist verbittert, versucht durch saubere Schürzen und präzise gedeckten Tisch ein letztes bisschen an bürgerlichem Schein zu wahren, auch wenn die Suppenschüssel nur eine magere Brühe enthält. Die Geschwister sind zwangsläufig auf sich selbst fixiert und müssen ihren Weg zum Erwachsenwerden selbst finden. Der führt bekanntlich durch den Wald zur Knusperhexe, hinein in jenen mythischen Forst, dessen Dunkelheit bedrohlich wirkt, der dennoch auch freundliches Getier enthält; und wenn Taumännchen einem Glitzer in die Augen streut, dann lässt es sich auf modrigem Boden wunderbar tief schlummern.
Regisseurin Clara Kalus findet in einem altbekannten Stück, das die Spielpläne vorwiegend zur (Vor-)Weihnachtszeit belebt, doch einige Aspekte, die tiefer zielen, als es der Theatergänger von der liebenswerten Märchenoper mit den volkstümlichen Melodien gewohnt ist. Die Mutterfigur wird hinterfragt. Wie zerstörerisch kann sie auf Kinder wirken in ihrer selbst zentrierten Verbitterung? Verirrt im deutschen Wald müssen sie sich lösen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Verstärkt wird die Ambivalenz der Mutterfigur noch dadurch, dass Gertrud und Knusperhexe von einer Person gespielt werden. Sehr gut verkörpert Carolyn Frank diese zwei Seiten, mal abweisend als Mutter, mal schrill und egoistisch als Knusperhexe. Frei werden die Kinder erst, wenn sie sich der Mutterhexe symbolisch entledigt haben. Auch die vierzehn Engel sind in Heidelberg von freundlicher Diesseitigkeit, angemustert wie Doppelungen des Geschwisterpaars.
Die von Nanette Zimmermann gestaltete Bühne imaginiert „Wald“ über abstrahierte Projektionen, die Kostüme von Maren Steinebel wechseln von der sittsamen Schürzenkultur im Anfangsbild, wo den Kindern bei karger Kost Benehmen beigebracht wird, zu entspannter Kleidung, wenn die Kinder sich im Wald zurecht finden müssen. Gesanglich geht es ordentlich zu, denn Elisabeth Auerbach hat für den Hänsel einen angenehmen Mezzo und begrenzt das burschikose Element. Die kleine Hye-Sung Na spielt die große Schwester Gretel und singt ihre Sopranpartie voll aus. Auch Taumännchen und Sandmännchen sind in der Besetzung eins, Irina Simmes kantet die Gesangslinien gelegentlich auf. James Homann spielt den Peter Besenbinder recht jovial und durchaus fürsorglich.
Gut agiert der von Anna Töller einstudierte Kinder- und Jugendchor; das Orchester unter Leitung von Dietger Holm überdeckt einige Male ein wenig die Singstimmen; ansonsten aber wird die Partitur bildhaft, zügig und mit einnehmendem Sog klanglich umgesetzt. Also: Die Kinder haben sich zwar zwischenzeitlich im deutschen Wald verirrt, aber die Inszenierung hat nirgends die Orientierung verloren. Entsprechend wohlwollend wird die Premiere vom Publikum aufgenommen.
Eckhard Britsch
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