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Fakten zur Aufführung 

LIE LIKE A LION
(Yasmeen Godder)
27. Februar 2015
(Deutsche Erstaufführung)

Tanzhaus NRW


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Hypnotische Brachialität

Die Bühne ist eine weiße Fläche, die im Hintergrund mit einer weißen, schmucklosen Wand abschließt. Einfach, steril. Einige Gegenstände sind mit rosafarbenen Plastiktüten bedeckt. Es sind Säcke, wie sie vermutlich millionenfach in irgendwelchen Kellerräumen abgestellt sind. Vollgepackt mit den Sachen, von denen man sich nicht trennen möchte, ohne sie je wieder brauchen zu können. Irgendwann kommt für jeden im Leben der Moment, in dem man sich mit dem Inhalt dieser Säcke wieder auseinandersetzen muss. Das löst dann wohl die unterschiedlichsten Empfindungen aus. Die Wehmut der Erinnerung, die Angst vor dem Verlust, aber auch die Unsicherheit, wie man mit diesen Dingen umgeht, die einmal für einen Lebensabschnitt höchst bedeutsam waren. Yasmeen Godder bewahrt in solchen Säcken die Requisiten ihrer Werke aus den letzten 15 Jahren auf. Jetzt ist für sie der Zeitpunkt gekommen, nachzuschauen und Bilanz zu ziehen. Dabei können die Requisiten nur symbolhaft für ihr Schaffen stehen. Dahinter steht ihre tänzerische Entwicklung, die sie zu den wichtigsten Vertreterinnen zeitgenössischer Tanzkunst in Israel gemacht hat. Selbst kreierte Bewegungsmuster, die zum Verstörendsten gehören, was man nicht nur in Israel in den letzten anderthalb Jahrzehnten sehen konnte.

Mit Lie like a Lion bringt sie ihre ganz persönliche Bilanz im Tanzhaus NRW als deutsche Erstaufführung auf die Bühne. Indem Godder den Pianisten Matan Daskal und den Bratschisten Moshe Aharonov in die Aufführung einbezieht, eröffnet sie neue Räume, um „alte“ Versatzstücke in neue Zusammenhänge zu bringen. Spröde beginnt die Handlung, die keine sein soll, damit, dass die drei das Löwenkostüm aus I’m mean, I am, einen Flügel und einen altmodischen Fernseher auspacken. Die Tänzerin in blauer Trainingshose und einem Unterhemd, unter dem ein knapp sitzender Büstenhalter im Tigerdruck zu sehen ist, Aharonov in einem Aufzug, der einen Tierpfleger assoziieren könnte, und Daskal leger in Jeans, Hemd und Slippers. Adam Kalderon hat sich diese Bekleidung ausgedacht, die den Akteuren nicht nur Bewegungsfreiheit beschert, sondern auch in Teilen vorübergehende Textilfreiheit ermöglicht.

Freiheit ist auch, was die Choreografie von Yasmeen Godder ausmacht. Die Bewegungen, Gestiken, Mimiken bis hin zu den Tönen archaisch, entziehen sich jeder Interpretation, wecken Assoziationen, die sich in Ungewissheit auflösen. Annäherungsversuche ohne Bestand, mal rüde, mal feinsinnig. Brüche, wohin man schaut. Plötzlich verwandelt Godder sich in einen Clown, indem sie alle Kostüme der Vergangenheit übereinander zieht. Ein komischer, lächerlicher, aber auch kläglicher Clown, wie sie selbst sagt. Ihre Verwandlung zum Löwen bis zur letzten Phase, in der ein Messer im Nacken sein Leben beendet, verweist auf die Doppeldeutigkeit des Titels. Wo die einen mit „Lüge wie ein Löwe“ eher surreal einen Hinweis auf die fehlende Gültigkeit von Lebensmotiven und Beziehungen vermuten, wird für die anderen klar, dass „Liege wie ein Löwe“ hier seinen intensiven Höhepunkt findet. Sowohl was die feine Beobachtung des tierischen Bewegungsverhaltens seitens der Tänzerin angeht, als auch die Würde, mit der der König der Tiere sein Leben vollendet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sind die Zuschauer längst im Bann des an den Dadaismus erinnernden, brachialen Tanzstil gefangen, verfolgen schier atemlos die Wechselbäder von Erotik und Isolation, während das Keuchen der Akteure nicht nur die Anstrengung, sondern auch die ungeheure Konzentration verdeutlicht.

Untermalt und gestützt wird das hypnotische Geschehen auf der Bühne von zeitgenössischen Musikstücken. Nico Muhly, Salvatore Sciarrino und Gal Schuster lassen grüßen, nicht ohne den üblichen Kommentar zu ernten: „So kann ich auch Geige spielen“. Ernsthaft unterstreicht die vor allem von Moshe Aharonov kongenial präsentierte und akustisch wunderbar von Oren Cohen umgesetzte Musik eine Stimmung, die zwischen brachialer Rhythmik und grober Zärtlichkeit schwankt.

Als das Publikum aus der Trance erwacht, reagiert es – für das Tanzhaus ungewöhnlich – mit Bravo-Rufen und Johlen. Für Yasmeen Godder ist ihre Bilanz ein Pyrrhus-Sieg. Das Alte mag sie aufarbeiten, einen Weg in die Zukunft zeigt es ihr nach eigenen Worten nicht. Da muss wohl was Neues her. Und darauf darf man sich wohl jetzt schon freuen.

Michael S. Zerban

 

Fotos:
Yoav Brill (1), Tamar Lamm (2-4)