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Fakten zur Aufführung 

AMERICANITIS PRESENTS THE SEAGULL AND OTHER BIRDS
(Pan Pan Theatre)
14. November 2014
(Premiere am 13. November 2014)

Forum Freies Theater Düsseldorf


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Die Möwe und andere Vögel

Sie sagen, Sie hätten über meine Theaterstücke geweint. Sie sind nicht der einzige. Dazu habe ich sie aber nicht geschrieben. Stanislawski war es, der sie so rührselig gemacht hat. Ich wollte etwas ganz anderes. Ich wollte einfach und ehrlich sagen: schaut euch an, seht doch, wie schlecht und langweilig ihr euer Leben führt!“ schrieb Anton Tschechow an Alexander Tichonow. Allerdings war es genau dieser Theaterreformer Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, der der Möwe 1896 zum Durchbruch verhalf. Damit trat das Stück seinen weltweiten Erfolg an und gehört bis heute zu den meistgespielten Bühnenstücken. Ungezählt sind die Interpretationen. Alles schon da gewesen. Alles? Nein, die Interpretation des Pan Pan Theatre fehlte noch. Die wird derzeit im Forum Freies Theater als deutsche Erstaufführung präsentiert.

Vor über 20 Jahren gründeten Gavin Quinn und Aedin Cosgrove das Pan Pan Theatre in Dublin. Mit zeitgenössischen Adaptionen bekannter Stoffe und selbst entwickelten Projekten erarbeitete sich die Gruppe einen Ruf weit über die irischen Landesgrenzen hinaus. „ Wir brauchen neue Formen, und wenn sie nicht da sind – dann lieber gar nichts“, sagt Konstantin Gavrilovič Treplev im Dialog mit seinem Onkel Pjotr Nikolayev Sorin über die Entwicklung des Theaters. Wie in Stein gemeißelt, steht dieses Zitat über der Regie von Gavin Quinn. Aus der Möwe ist Americanitis presents the Seagull and other Birds geworden. Amerikanitis versteht Quinn in diesem Fall als Arbeitsanweisung: Das Stück muss simpel, präzise und offen für alle Möglichkeiten sein. Die Simplifizierung gelingt. Das Bühnenbild besteht aus weißen Tüchern und anderen marginalen Requisiten. Rechts wird es von einer Ballettstange, einem Klavier und einem Tisch begrenzt, links finden sich zwei Tische mit Computern und Mischpult. Die Kostüme von Grace O’Hara entziehen sich bewusst jeder Deutung. Die Ganzkörpertrikots werden bei Männern wie Frauen je nach Bedarf mit den Bestandteilen der Ballett-Tänzerinnen-Ausstattung wie Tutus ergänzt. So entsteht mit einfachen Mitteln ein Raum, der frei von der Bindung an Tschechows Werk bleibt. Raum für Musik, Raum aber auch für Querverweise auf beispielsweise Fernsehserien. Und Raum auch für Mitmachtheater. Das hält sich in Grenzen, wird aber vom Publikum gern angenommen. Die Deutschen waren und sind ein Mitmachvolk. Daran hat sich nichts geändert. Kaum hat das Stück begonnen, wird das Publikum zum Chor und intoniert I don’t like Mondays von Bob Geldorf. Das Stück ist in englischer Sprache angekündigt und bleibt dementsprechend ohne Übertitelung. Das geht voll und ganz in Ordnung, weil es zwar nicht unbedingt mehr Besucher anlockt, aber diejenigen, die trotzdem zur zweiten Vorstellung gekommen sind, auch nicht verärgert. Ganz abgesehen davon, dass man sich so ganz auf den irisch-englischen Wortwitz konzentrieren und die zahlreichen fuck und fucking nicht in der Übersetzung lesen muss.

Auf der Studiobühne ist ein ausgesprochen homogenes Team zu erleben. Authentizität ist das Merkmal der Inszenierung. Andrew Bennett gibt als Boris Alekseevič Trigorin gleich zu Beginn ein leuchtendes Beispiel, das sich durch sein Spiel hindurch zieht. Im Mittelpunkt steht immer wieder Samantha Pearl als Nina, die durch tänzerische, späterhin gar artistische Einlagen und einen intensiven Augenkontakt mit einzelnen Gästen ebenso auffällt wie Una McKevitt. Ihre Masha liefert nicht nur eine eher belustigende Kopulation mit Konstantin ab, sondern ist auch eine Frau, die sagt: „Ich liebe dich, ohne dabei lächeln zu können“. Irina Nikolayevna Arkadina hingegen ist aus Sicht von Gina Moxley eher eine Frau, die sich mit dem durchaus heutigen Problem alternder Frauen mit ihrem Körper und ihrer Schönheit auseinander setzt. Dass sich Konstantin alias Dick Walsh als ihr Sohn nicht gegen ihre Herabwürdigung durchsetzen kann, führt nicht wie bei Tschechow zum Tod durch Erschießen, sondern zum Suizid durch Erhängen. Sehr irisch, sehr komisch begeistert Daniel Reardon als Onkel Sorin. Alle zusammen präsentieren eindrucksvoll den Tanz der vier kleinen Schwäne des Allegro Moderato aus den Schwanentänzen im zweiten Akt des Balletts. Glücklicherweise nicht die 400. Parodie, sondern sehr eigen, aber schön getanzt.

Neben der Klavier- und Ballettmusik dürfen sich auch schon mal Musik von Bach oder wummernde Beats vom Band unter die Musik mischen. Ein spielfreudiges Ensemble hält sich eben, wie erklärt, alle Möglichkeiten offen. Das Pan Pan Theatre hat aus dem Klassiker ein ganz eigenes Werk geschaffen, dessen Reiz man sich kaum entziehen kann – selbst wenn man Mitmachtheater nicht mag.

Das Publikum passt an diesem Abend in vier Stuhlreihen. Ein einzelner Zuschauer lacht für vierzig. Was lustig klingt, muss man mal live erleben. Ansonsten gibt es kurzen, viel zu kurzen Applaus. So ist das halt mit dem Reisetheater. Da musst du auch schon mal vor kleinem Publikum spielen. Extra-Applaus dafür, dass das Ensemble trotzdem keinen Moment Professionalität vermissen lässt. Ein schöner Abend.

Michael S. Zerban







Fotos: Ros Kavanagh