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Sentimentale Reise durch ein Jahrhundert
Nach so viel Begeisterung, lauthalsem Mitsingen und Schwenken von bunten Leuchtstäben im Rhythmus des deutsch-deutschen Pop-Klassikers von Karat Über sieben Brücken musst Du gehen wird es ganz still. Der Kinderchor des Anhaltischen Theaters singt das Kinderlied Uns`re Heimat, dessen Text der Dessauer Herbert Keller gedichtet hat. Und auch wenn heute die politischen Verhältnisse ganz anders sind – die Botschaft des Liedes ist unverändert wahr und voller Hoffnung. Erinnerung bleibt.
Hoffnung und Bangen, Freude und Leid, Sehnsucht und Verlangen in Zeiten des Friedens und zweier Kriege in Deutschland Ost und West thematisiert die Jahrhundertrevue Kristallpalast, die Regisseur und Choreograf Tomasz Kajdanski mit Ballett und Schauspiel inszeniert hat. 20 Tänzer und Schauspieler lassen gemeinsam mit dem Kinderchor des Anhaltischen Theaters ein Jahrhundert in Liedern, Chansons, Schlagern, Operettenmelodien, Kampf- und Arbeiterliedern sowie Musik aus Weils Dreigroschenoper, in Tänzen von Tango, Walzer, Foxtrott bis Twist und Lipsi Revue passieren. Das gesprochene Wort wird durch die Kraft der Klänge, durch den Ausdruck der Körper in den das jeweilige Zeitalter kongenial widerspiegelnden Bewegungschoreografien ersetzt. Diese stumme Revue führt in immer neuen Verwandlungen durch die Zeiten. Menschen und Menschenschicksale werden emotional bewegend vorgeführt. Es ist erstaunlich, in welchem atemberaubenden Tempo sich die Tanzszene verändert, in immer neuen Kostümen und Masken man sich in die Tanzformationen zu der Original-Musik hineinfindet, die aus dem Off die Zeit so treffend charakterisiert. Die Musik wird vom Grammophon mit Schellackplatten, Plattenspieler und Radio original eingespielt. Und so wird diese Jahrhundertrevue für den Zuschauer eine Erinnerungsrevue, wenn Heinz Rühmann und Hans Albers meinen Jawoll meine Herrn, die Capri-Fischer besungen werden oder man scheinbaren Trost mit Im Leben geht alles vorüber spendet.
Den Rahmen dieser ganz besonderen Geschichtslektion bildet der Kristallpalast, eine Dessauer Restauration mit einer wechselvollen Geschichte. In seiner Geschichte war es Tanzpalast, Theater, Ort für Parteipropaganda der Nazis und der Kommunisten, Lazarett und immer wieder ein Ort der Geselligkeit, von Tanzvergnügen, Theater, Modenschauen und Boxkämpfen. Als Ruine ist der Kristallpalst heute ein Ort der Erinnerungen. Und die lassen die Dessauer Künstler in dieser Revue aufleben. Höhepunkt ist, wenn zu Schlagern der DDR wie Ein Himmelblauer Trabant, Ich hab`den Farbfilm vergessen, Ute Freudenbergs Jugendliebe, den Pinguin Mambo oder den Lipsi Heute tanzen alle jungen Leute mit zahllosen Zuschauern, die auf die Bühne geholt werden, getanzt wird. Die Zeitrevue hat auch viele Szenen, die unter die Haut gehen. Wenn sich der Faschismus wie schleichendes Gift der Menschen bemächtigt, die Inflation säckeweise das wertlose Geld „regnen“ lässt und erst die US-Army mit Get up, Mademoiselle, den Care-Paketen und später zu den Klängen von Katjuscha die Rote Armee auftreten. Die Kostüme von Steffen Gerber charakterisieren treffend die jeweilige Zeit, und Nicole Bergmann und Nancy Ungurean haben auf die Bühne einen Tanzpalast gebaut, der den Dessauer Kristallpalast in seiner Vergänglichkeit erahnen lässt.
Aus dem Ensemble seien stellvertretend herausgehoben: Gerald Fiedler, Illi Oehlmann, Sebastian Müller-Stahl, Joe Monaghan, Anna-Maria Tasasz.
Langanhaltender Beifall und Ovationen für eine mitreißende Revue.
Herbert Henning
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