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Fakten zur Aufführung 

RINALDO
(Georg Friedrich Händel)
4. Dezember 2014
(Premiere am 30. November 2014)

Theater Bonn


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Im Rad der Turbulenzen

Venti, turbini, prestate Le vostre ali a questo piè! Rinaldo, der Kreuzzügler vor den Toren Jerusalems beschwört in seiner Bravourarie zum Ende des ersten Aktes den Himmel und die Winde, ihn bei seinem Rachefeldzug beizustehen. Der angesichts des innigen Flehens aufbrandende Sturm fegt auch auf der Bühne des Opernhauses Bonn. Zwar kommt der Orkan ganz ohne Windmaschine aus. Doch inszenieren die sich an Wände, Möbel, Treppen und sonstige Utensilien klammernden Statisten die Illusion eines rasenden Sturms so perfekt, als würde das Unheil gerade das ohnehin gebeutelte Haus am Rhein heimsuchen. Der Gipfelpunkt ist erreicht, als einer der Akteure sich in einer 180-Grad-Position mit letzter Kraft an eine Hauswand klammert, als ob er um sein Leben kämpfte. Regisseur Jens-Daniel Herzog und sein Bühnenausstatter Christian Schmidt spielen in dieser Sequenz so wunderbar mit den Mitteln des Theaters, dass einem im Parkett ganz bange zu werden droht. Kein Zufall, gewiss. Bekanntlich suchen die Stürme die Institution der Bonner Oper nun schon geraume Zeit heim. In Händels Rinaldo, um die Geschichte vorwegzunehmen, geht am Ende alles gut aus. Zwei Paare finden sich, Liebe tritt an die Stelle von Rache und Zerstörung, eine Zauberin lässt, von religiöser Emphase gepackt, ab von ihrem Spuk, alle eint am Ende des dritten Aktes eine schmissige Ensemblenummer. Wie es beim Bonner Theater ausgehen wird, ist in wesentlichen Fragen dagegen völlig offen. Man wird sehen, vermutlich begleitet von einer Musik, die weniger schön ist als die des Hochbarock.

Apropos: Häufig stößt man gerade in der Aufführungspraxis von Barockopern heute auf die Klage, es gebe da, um es salopp zu formulieren, zu viel Musik und zu wenig Theater. Bei diesem Rinaldo verhält es sich eher umgekehrt. Herzog zeigt in Bonn seine Inszenierung von 2008 für die Oper Zürich. Es ist eine Produktion, geprägt und getragen von der Liebe zum Theater und seinen spielerischen Mitteln, von dem Zauber, den eine packende, vielleicht sogar elektrisierende Inszenierung im Publikum zu wecken versteht. Im Händel-Werk-Verzeichnis ist die Oper als Dramma per musica erfasst, in den Informationen zur Bonner Aufführung als Opera semiseria. Diese winzige Akzentverschiebung bringt den Clou der Sache auf den Punkt. Nicht dramatisch heftig, gar aktuell-politisch entlang der Konfliktlinie zwischen christlichen und muslimischen Fundamentalisten versteht Herzog seine Inszenierung. Es ist Raum für allerlei Ulk, für Komisches, für Slapstick und andere Spielformen moderner Unterhaltung.

Unmittelbar nachdem Händel, schon ganz Geschäftsmann, 1710 seinen ersten Auftrag für das Londoner Queen’s Theatre erhält, sucht er nach einem Stoff, der das Potenzial der damaligen Bühnentechnik optimal ausnutzt und das Publikum fasziniert. Rinaldo als Libretto von Giacomo Rossi nach einem Szenario von Aaron Hill trifft exakt die Erwartungen des jungen Komponisten. Hill, eine schillernde Persönlichkeit der Wissenschafts- und Theaterszene Londons, erkennt in dem Kreuzritterplot mit all seinen Zaubereien und Verwandlungskunststücken die Chance, sein Talent als Konstrukteur von Bühnenmaschinen und Illusionseffekten sensationell unter Beweis zu stellen. Zeitgenössische Beobachter beschreiben Nicolini, wie er in einem Hermelinmantel dem Unwetter trotzt und in einem offenen Boot einen See aus Pappmaché durchquert.

Ein gefundenes Fressen für einen wie Herzog, einen Aaron Hill von heute. Um den Abstand zu einer möglichen politischen Überhöhung des Stoffes deutlich zu machen und dem Spiel der Ritter und Zauberer Raum zu verschaffen, verschiebt Herzog die Schauplätze von der Militär- in die Businesswelt. Die Empfangshalle einer Konzernzentrale, die auch als Location eines Hotels oder eines Flughafens gedeutet werden kann, ist nun der Ort, an dem die Protagonisten der rivalisierenden global player ihren Wirtschaftskrieg ausfechten. Eine übergroße Uhr zeigt dabei an, dass die Krieg führenden Christen um Ritter Rinaldo auf der einen und die ihr Jerusalem verteidigenden Sarazenen um ihren König Argante auf der anderen Seite unweigerlich in einer Entscheidungsschlacht landen, sofern nicht ein Wunder geschieht und die Liebe obsiegt. Die Halle beherrscht eine Rolltreppe, hoppla: eine vermeintliche Rolltreppe. Denn hier rollt wahrlich nicht eine einzige Stufe. Vielmehr schaffen die wunderbau schauspielernden Statisten in den typischen Kostümen heutiger Konzernangestellten durch choreographierte Bewegungsabläufe die Illusion einer Rolltreppe. Eine Augenweide sind die Tänzerinnen und Tänzer, die das Personal umgarnen, mal lockend, mal spottend. Armidas Cheerleaders sind in Hochform. Einen speziellen Theaterspaß, ein bisschen mit Schauder gespickt, verschafft die Inszenierung einer Organentnahme beim lebenden Kaninchen. Sulla ruota di fortuna va girando la speranza, singt dazu Eustazio mit ironischer Kühle. Im Rad des Schicksals dreht sich die Hoffnung.

Händel komponiert 1710/11 die Titelpartie seiner Londoner Debütoper dem berühmten Soprankastraten Nicolo Grimaldi, genannt Nicolini, gleichsam in die Kehle. Zürich hat die Rolle mit der eher robusten Mezzosopranistin Juliette Galstian besetzt. In der Bundesstadt nun singt und spielt Susanne Blattert den Part des umtriebigen Ritters und Kreuzfahrers. Blattert, seit weit über einem Jahrzehnt als quasi erster Mezzo im Bonner Ensemble, verfügt über eine ausgeprägte Händel-Erfahrung, so in tragenden Partien in Dietrich Hilsdorfs Bonner Oratorienzyklus Belsazer, Saul und Jephta. So recht überzeugen kann sie jedoch als Rinaldo nicht. Ihre ausgereifte Technik hilft ihr zwar sicher über alle vokalen Klippen hinweg, von der erwähnten Orkanarie Rinaldos über das bewegende Lamento Cara sposa, amante cara bis hin zum beherzten Duett Fermati! – No, crudel mit der Zauberin Armida. Doch ermangelt sie des gewissen vokalen Charismas, das diese Rolle braucht. Vielleicht – nur ein theoretischer Gedanke – wäre dieser Rinaldo doch besser mit einem Countertenor besetzt. Der findet sich zwar im Personal der Aufführung, in Gestalt des respektabel singenden Jakob Huppmann als Eustazio. Nur ist das nun doch in jeder Beziehung eine Nebenrolle.

In der zweiten Aufführung in der Bonner Oper profitiert das Publikum im Übrigen von einer Laune der Umstände, wie sie im Theater gang und gäbe sind. Die Sopranistin Netta Or, die Premierenbesetzung, gibt erstmals am Boeselagerhof die Zauberin Armida. Vier Tage zuvor, am Tag der Premiere, war sie noch daran gehindert. Or stellt wie befreit ihr großes Können im Fach des dramatischen Koloratursoprans unter Beweis. Zudem präsentiert sich die gebürtige Israelin mit großem komödiantischen Können. Sumi Hwang hat den dank Händel unschätzbaren Vorteil, in der Rolle der Almirena die schon das Londoner Publikum zu Tränen rührende Sarabande Lascia ch'io pianga interpretieren zu dürfen. Ansonsten singt und agiert sie ebenso wie Kathrin Leidig in der Mezzo-Partie des Goffredo voll Verve und Spiellaune. Ein As, wieder einmal, ist die Stütze der Bonner Sängergilde, Giorgos Kanaris, als Argante, König von Jerusalem und Favorit der Armida. Als Anführer der Sarazenen mit einer Kipa-Variante trefflich von den die Stadt belagernden Christen zu unterscheiden, wirft er sich mit Temperament und glorioser Buffo-Spiellaune an die Fronten, die des Krieges und die der Eroberung der Frauen – gern auch vice versa.

Mit dem auf Barock-Format reduzierten Bonner Beethoven-Orchester bringt Wolfgang Katschner, der musikalische Leiter, ein hohes Maß an Händel-Affinität zustande. Grandios die schnellen Tempi, feinfühlig verhalten die lyrischen Sequenzen, so in den wenigen Duetten. Vorzüglich ist das Flötenspiel, eine konstituierende Größe des Rinaldo. Markant, bisweilen zu markant der Basso Continuo mit Christian Brunnert am Violoncello, Stefan Rath an der Laute und Clemens Flick am Cembalo, wobei der Cembalist bei der forcierten Gangart, die Katschner anschlägt, in manchen Sequenzen gehörig zu agieren hat, was er übrigens famos bewältigt.

Das Publikum quittiert die Leistungen von Orchester und Sängerensemble mit anhaltendem Beifall, der Vergnügen und Respekt verrät. Semiseria eben, die Lust macht auf mehr von dieser Qualität. An Seria wird es in nächster Zeit ohnehin keinen Mangel geben. Und das nicht nur auf den Brettern des Theaters Bonn.

Ralf Siepmann

Fotos: Thilo Beu