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Fakten zur Aufführung 

DIE MEISTERSINGER
VON NÜRNBERG

(Richard Wagner)
3./4. Oktober 2015
(Premiere)

Staatsoper Berlin, Unter den Linden


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

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Der Weg der deutschen Meister

Die deutschen Weltmeister gibt’s nicht nur im Fußball: Weltmeister sind auch eine Vielzahl Deutschlands mittelständischer Firmen und börsennotierter Unternehmen.

Deren Gründer sind heute oft ehrwürdig ergraute Patriarchen, die entweder unmittelbar oder unter Sicherstellung der Macht über diverse Gremien diese weltweit erfolgreichen, teilweise sehr großen Marktführer noch immer prägen. In Wirtschaftsmagazinen geben sie Interviews und ihre Bilder werden dort regelmäßig abgebildet.

Bei Andrea Moses sind sie auch die Meistersinger ihrer neuen Produktion der Staatsoper Unter den Linden. Konsequent sind die Lehrbuben hoffnungsvolle Trainees für das zukünftige Führungspersonal oder gehören zu Projektgruppen von jungen, ehrgeizigen und aufstrebenden Unternehmensberatern.

Das moderne Ambiente wird unter anderem in den Kostümen und Frisuren, aber auch im Drill der jungen Leute durch Anmutungen wie aus den 1960-er oder 70-er Jahren gebrochen – hier gibt offenbar der „Alte“ noch selbst die Kleidungs- und Verhaltensregeln im Betrieb vor.

Gottesdienst und meeting room der Meistersinger liegen ganz oben in einer dieser Firmenzentralen, im Hintergrund ist ein riesiges, sich drehendes Firmenemblem erkennbar.

Das winkelige Alt-Nürnberg im zweiten Akt ist ersetzt durch eine außerordentlich dichte Bebauung von hochmodernen Unternehmenszentralen mit den leuchtenden Logos der Firmen auf dem Dach. Die Bürohäuser stehen offensichtlich auf den Grundstücken der alten Häuser der traditionsreichen Eigentümerfamilien und bilden so eine eigenwillige Kombination von Standorttradition und Modernität. Auf den Dächern dieser Häuser wirbt Walter für Eva, trägt Beckmesser sein nächtliches Werbelied vor und zum Ende des zweiten Aufzugs findet der Gewaltausbruch der bürgerlichen Welt statt.

Doch bis es dazu kommt, muss der adelige Außenseiter Walter von Stolzing, der seine angebetete Eva in der Kirche schon heimlich berühren und leidenschaftlich küssen durfte, sich den Meistersingern stellen, um an einem Gesangswettbewerb teilnehmen zu können. Bei diesem Wettbewerb sind seine Eva und das Firmenvermögen des Vaters als Preis ausgelobt.

Beim Wettbewerb wachen die Patriarchen als Meistersinger über die Regeln des ordnungsgemäßen Kunstsingens. Sie haben mit Disziplin und Härte gegen sich selbst ihre Unternehmen aufgebaut und üben dieselbe Haltung bei der Wertung des traditionellen Gesangs. Die Kunstausübung bedeutet ihnen viel. Sie sind Sponsoren dieser Kunst und die Logos ihrer Firmen sind bei jedem Zusammentreffen deshalb allgegenwärtig. Es werden kontroverse Debatten geführt.

Das spontane, gefühlvolle Lied des Neuen kann diesen Regeln nicht entsprechen, er wird nicht als Meister aufgenommen. Doch einer steht zu ihm: Hans Sachs, der wirkmächtigste Unternehmer und Dichter. Er erlaubt sich kleine Freiheiten: Auf seinem Hausdach steht die unübersehbare und von ihm selbst liebevoll gepflegte Hanfpflanzung, aus der er sich gern sein Tütchen dreht. Auch Eva bekommt ihre Zigaretten von Sachs. Ein wenig ist auch er Außenseiter. Er hinterfragt. Er will gar das Volk auf dem bevorstehenden Fest in die Entscheidungsfindung für die Preisvergabe einbeziehen. Den anderen erscheinen solche Vorschläge gegen die Tradition und nicht hilfreich.

Sachs kann schließlich die Welten zueinander führen. Unter seiner Anleitung lernt Walter doch noch, ein Meisterlied zu erschaffen, mit dem er auf der Festwiese seine Eva gewinnt. Eva, ihr Vater, die Meistersinger und natürlich Sachs stimmen zu. Das Volk folgt Walter begeistert und ohne Regeln zu hinterfragen. Als Walter am Schluss die Aufnahme als Meistersinger zunächst ablehnt, folgt er jedoch Sachs‘ Bitte schweigend und umgehend, Teil der traditionellen Runde zu werden.

Auch den arabischen Geschäftspartnern, die auf Einladung eines Unternehmers auf der Festwiese sind, werden diese Begebenheiten höflich übersetzt. Als Kapitalgeber für deutsche Unternehmen sind sie gut integriert und vom weltoffenen Deutschland gerne gesehen. Sie staunen über die Traditionen dieses Landes mit Lederhosen, Tänzen, den traditionellen Trachten und dem Gesang.

Die offenen Fragen: Wird Walter diese, den alten Unternehmern langsam über den Kopf wachsende, mittlerweile teilweise fremde Welt als Vertreter einer neuen Generation erfolgreich weiter führen können? Kann er das als Teil der alten Welt, der er freiwillig beitritt? Was sind die zukünftigen Herausforderungen? Kurz werden Beispiele dazu sichtbar: Als Sachs in seiner Schlussansprache von potenziellen Gefahren und einer Uneinigkeit des deutschen Volkes spricht, werden im Hintergrund für einige Momente Flaggen mit rechtsextremistischen Attributen sichtbar, die Sachs und Teile des Volkes zurückdrängen.

Auch neue Ideale des Landes werden sichtbar. Die Festwiese liegt direkt vor dem Neuen Schloss, ganz am Ende verschwindet diese Rekonstruktion und Verneigung vor der Tradition des Landes und gibt den Blick frei auf ein Hochglanzbild unbefleckter Natur. Es wirkt wie aus einem Kampagnenbeitrag einer heimischen Nichtregierungsorganisation über die bessere Zukunft oder aus einem Prospekt für den Exportartikel Deutsche Energiewende.

Andrea Moses hinterfragt in ihrer Meistersinger-Inszenierung nicht die Belastungen der Vergangenheit, sondern bietet ein sensibles Bild auf das Deutschland von heute mit vorsichtigen Fragen an seine Zukunft. Ein großer Wurf. Bühnenbildner Jan Pappelbaum und Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki unterstützen diese Sicht der Regisseurin kongenial.

Wolfgang Koch ist Hans Sachs. Er hat die Leichtigkeit und Natürlichkeit für den Wagnerschen Sprechgesang wie kein anderer. Jedes Wort verständlich, jede Artikulation sinnhaft. Kwangchul Youn führt als Pogner die Gruppe der Meister an, seine Diktion, sein makelloses Singen sowie sein souveränes Spielen lassen Evas Vater, den die Zweifel seines eigenes Entschlusses, seine Tochter als Preis auszusetzen, lebendig werden. Viele der alten Meister sind ehemalige Größen im Wagnerfach; stellvertretend seien genannt Siegfried Jerusalem als Balthasar Zorn, Reiner Goldberg als Ulrich Eisslinger und durchschlagend komödiantisch Franz Mazura als Hans Schwarz.

Stephan Rügamer spielt und singt einen flexiblen, gesanglich und darstellerisch vielseitigen, äußerst textverständlichen David.

Klaus Florian Vogt ist einer der erfahrensten Stolzings überhaupt – er überzeugt darstellerisch und mit seinem jugendlichen Auftritt. Die Stimme ist nicht immer ohne Anstrengung, verkörpert aber einen glaubhaften jungen Ritter, der seine Eva gewinnen kann und hoffentlich den Herausforderungen der Zukunft gewachsen ist. Die Eva wird klangschön von Julia Kleiter gegeben. Die Magdalene von Anna Lapkovskaja ist ihr eine ebenbürtige Vertraute.

Der Chor der Staatsoper unter Martin Wright meistert die großen Aufgaben hervorragend und kann gerade bei der 16-stimmigen Doppelfuge am Ende des zweiten Aktes und bei den Anforderungen der Festwiese glänzen.

Die Staatskapelle unter Daniel Barenboim spielt qualitativ wie ein Kollektiv von Solisten, jedes Instrument ist hörbar, alle Strukturelemente der Partitur werden auf das Genaueste hörbar. Die Flexibilität bei der Begleitung der Sänger und der großen Chorszenen ist perfekt, und die schwierigsten Teile der Partitur erklingen in unglaublicher Präzision und Durchhörbarkeit. Hier zahlt sich die harte, über 20-jährige Partnerschaft von Barenboim mit seinem Orchester aus.

Die Oper wurde auf Wunsch von Barenboim am Wiedervereinigungs-Wochenende auf zwei aufeinander folgende Tage verteilt. Der 3. Oktober endete mit der Keilerei des zweiten Aktes annähernd gegen Mitternacht. Am 4. Oktober um 12 Uhr mittags ging’s auf die Festwiese. Bravorufe und Getrampel der Begeisterung für den Sachs von Wolfgang Koch. Der Sänger ist auf dem Zenit seines künstlerischen Könnens und der Rollengestaltung dieser Partie. Einhellige, große Akklamation und viele Bravorufe für alle Sänger und den Chor. Jubel für das Orchester und Daniel Barenboim.

Achim Dombrowski

Fotos: Bernd Uhlig