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Gesungene Depressionen
Seelische Erkrankungen als Stoff für ein Musical sind im deutschen Unterhaltungstheater angekommen. In der Berliner Neuköllner Oper konnte man 2013 in Peter Lunds Stimmen im Kopf den Betrieb auf einer psychiatrischen Station beklemmend nah kennenlernen. Im Gegensatz zu diesem Ensemblestück, das Patienten, Angehörige und Therapeuten sehr differenziert und sogar mit Humor betrachtet, steht in Brian Yorkeys Broadwaymusical next to normal eine Familie im Mittelpunkt, die sich mit der manisch-depressiven Erkrankung der Ehefrau und Mutter auseinandersetzen muss. Pillen, Psychotherapie oder gar Elektroschock, das sind hier die Fragen. Fast normal ist ein herausforderndes, wirklichkeitsnahes Stück, das trotz des vorsichtig optimistischen Endes wenig mit gängiger Musicalunterhaltung zu tun hat. Dennoch waren die deutschsprachige Erstaufführung 2014 in Fürth und die folgende Produktion in Hildesheim enorm erfolgreich. Solch Zuspruch ist auch dem Berliner Renaissancetheater zu wünschen, das Fast normal mutig auf seinen sonst meist gutbürgerlichen Spielplan setzte – mit prominenten Darstellern wie in Fürth, wo mit Pia Douwes und Thomas Borchert zwei Topstars der Musicalszene mit von der Partie waren: Publikumsliebling Katharine Mehrling spielt Diana Goodman, Allroundschauspieler Guntbert Warns ihren Ehemann. Die Jugendlichen werden von vielversprechenden Studenten der Universität der Künste verkörpert.
Das Bühnenbild von Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos besteht aus einer raumfüllenden Treppe, deren einzelne Stufen als wechselnde Schauplätze dienen. Sie gleicht einer Showtreppe, doch mit Show hat Torsten Fischers genau gearbeitete Inszenierung wenig zu tun. Mehr mit einem geradlinig erzählten und konzentrierten, musikalischen Kammerspiel ohne Sentimentalitäten, das im intimen Rahmen des Renaissance-Theaters gut aufgehoben ist.
Katharine Mehrling, die mit ihrer umwerfenden Energie überwiegend im heiteren Fach und im Showbereich beheimatet ist, wendet sich mit der Diana Goodman wieder einer ernsten Figur zu. So überzeugend wie sie vor einigen Jahren die Gebrochenheit des Hollywoodstars Judy Garland gemimt hat, so eindringlich und ernsthaft spielt sie nun auch die Gefühlsschwankungen Dianas aus. Guntbert Warns charakterisiert den Ehemann Dan treffend zwischen Zweckoptimismus, Verständnis und Ratlosigkeit. Wie gut es um den Musicalnachwuchs bestellt ist, zeigt vor allem Devi-Ananda Dahm in ihrem differenzierten, rundum glaubwürdigen Rollenporträt der Tochter Natalie. Ihrem Freund Henry gibt Anthony Curtis Kirby eine rührende Besorgtheit und viel Empathie, Dennis Hupka dem Sohn Gabe, der nur in Dianas Fantasie existiert, jungenhaften Charme. Felix Martin als Arzt unterbreitet seine Behandlungsvorschläge mit angemessener therapeutischer Haltung.
Die fünfköpfige Band, von Harry Ermer vom Klavier aus versiert dirigiert, begleitet die stimmkräftigen Akteure bei den rockigen, nicht sonderlich ohrwurmträchtigen Songs von Tom Kitt mit wohltuender Zurückhaltung.
Viel Beifall im bedauerlicherweise nur mäßig besetzten Theater. Im Oktober gibt es in Berlin das nächste Musical zum Thema seelische Erkrankung. Dann steht im Studio des Admiralspalasts Burn out auf dem Programm.
Karin Coper
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