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Denkbar offene Fragen
Was sagt uns Britten mit seiner zweiten Oper ,The Rape of Lucretia' von
1946? Das Christentum rettet die Welt? Männer zerstören Frauen? Frauen
begehren Männer? Politik findet in Betten statt? Deborah Warners Inszenierung
im Rahmen der Münchner Opernfestspiele gibt auf diese Fragen keine eindeutigen
Antworten.
Ob Lucretia sich verführen hat lassen und ihre Keuschheit geistig aufgegeben
hat, liegt im Auge des Betrachters. Ob Tarquinius ohne niederste Absichten
zu ihr stieg - man könnte es glauben. Wenngleich die Männlichkeit von
Christopher Maltman dafür fast zu einnehmend erotisch ist. Machtpolitische
Dimensionen bleiben in der Regie hingegen Hypothese.
Warners Deutung zaubert dichte, suggestiv atmosphärische Stimmungen ins
Prinzregententheater. Dem Zuschauer, der gebannt den Übertiteln folgen
kann, ist es überlassen, sich einen Reim auf diese grausame Geschichte
zu machen. Liebhaber des faltigen Regietheaters mochten diese Uneindeutigkeit
als Beleidigung empfinden, konnte das Werk dadurch ja auch harmloser wirken
als es ist. Aber viele Zuschauer schätzen ihre eigene Denkfreiheit wieder
höher, als die Freude darüber, die Absichten eines Regisseurs erkannt
zu haben.
Bei den Opernfestspielen deuteten sowohl Langhoffs ,Meistersinger' als
auch ,Lucretia' an, dass wieder enger am Konzept der Komponisten inszeniert
wird und das Heute sich hauptsächlich in Bühne und Kostümen verwirklicht.
Warner und ihrem Bühnenbildner Tom Pye ist es beeindruckend gelungen,
die riesige Wagnerbühne auszufüllen. Meterhohe Käfige mit abgestorbenen
Ästen, ein spiegelnder Boden und offene Rückwände finden durch düstere
Lichtarrangements zu bedrückend schönen Stimmungen.
Im Gegensatz zur Regie war die Musik verbindlicher. Die glänzende Sängerbesetzung
ließ die Brutalität der Männer gegen die Frauen deutlich hören. Christopher
Maltman ist ein großartiger Tarquinius, stimmlich kraftvoll, männlich
roh und durchschlagend. Ein ganzer Kerl, der geliebt wie gehasst wird.
Sein Antipode ist Ian Bostridge als kommentierender Male Chorus. Schlacksig
und androgyn verkörpert er mit seiner Kopf- und Brustregister perfekt
abmischenden Stimme den moralisierenden Zweifler.
Auch der Female Chorus ist mit Susan Bullock ausgezeichnet besetzt, gelingt
es ihrem spröden Sopran mit dem flackernden Vibrato doch mühelos, sich
gegen die silberhellen Töne von Deborah York (Lucia) und gegen den mütterlich
warmherzigen Mezzo von Anne-Marie Owens (Bianca) abzusetzen. Die Oper
bleibt ein stimmlich transparentes Kammerspiel. Sarah Connollys Mezzo
gibt Lucretia Würde und Ausstrahlung, jedoch fehlen mir etwas die hörbaren
Schatten auf ihrer Seele.
Überragend präsentierte sich Ivor Bolton mit dem winzigen Bayerischen
Staatsorchester. Die Partitur leuchtete ungemein durchsichtig, klang zerbrechlich,
doch nie an der Grenze zur Auflösung. Hier wurde klar, wie laut ein gespannt
leises Musizieren klingen kann.
Wohlwollen und Dankbarkeit beim Publikum für eine grandiose Produktion,
der leider nur kurze Lebensdauer beschert ist. (tv) |
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