Die Angst vor dem Fremden in ihm
Otello – angetreten als Kämpfer für das „Erhabene“, infiziert durch das Virus der tödlichen Eifersucht vom Agitator des „Bösen“ Jago, begreift erst nach seiner Mordtat die Angst vor dem Fremden in ihm – wird zum Opfer tragischer Konstellationen. Volker Schmaloer inszeniert eine intensive Tragödie menschlicher Ausweglosigkeit zu Zeiten industrieller Gewalt.
Daniel Roskamps martialisches Bühnenbild mit Riesen-Ventilator als Bühnenwand, entsprechenden monströsen Geräten am Plafond und an einer Seite vermittelt Impressionen à la Metropolis. Optisch faszinierend – allerdings bleibt offen, wofür denn diese Metapher steht: mechanische Maschinen als Ikonen gewalttätiger Zwänge? Das funktioniert weder als Verweis auf aktuelle Situationen noch als historische Reminiszenz. Bleibt: Ein variabler Spielraum, animierend für Chor und Solisten.
Marco Comin leitet das spielfreudige Staatsorchester Kassel zu bravourösen Crescendi, vermag auch in eruptiven Tutti die Transparenz der Instrumente zu bewahren, verfällt allerdings in lyrischen Passagen in abrupte Spannungslosigkeit. Vielversprechend allerdings für den jungen Dirigenten: seine Fähigkeit, Orchester und Bühne zusammenzuhalten und damit einen nachhaltigen Gesamteindruck dramatischer Musik zu vermitteln!
Hinreißend im Gesamtklang Opernchor und Extrachor unter Marco Zeiser Celesti und der vorzügliche Kinderchor Cantamus mit Merle Clasen.
Ricardo Tamura gibt dem so gespaltenen Otello differenzierte Stimme, vermag Liebe und ambivalenter Leidenschaft sehr persönlich gefärbten Ausdruck zu verleihen: Ein dramatischer Tenor mit der souveränen Kompetenz individueller Charakterisierungen. Sara Eterno beeindruckt als unbegriffen-verfolgte Desdemona – als Bühnengestalt von bewegender Intensität, stimmlich in schmeichelnder Mittellage, anrührenden Tiefen und strahlenden Höhen eine emotionalisierende Stimme mit großer Zukunft! Espen Fegran gibt einen sinistren Jago mit dunkel gefärbtem Bariton – außerordentlich klangsicher, aber ohne dämonische Zwischentöne. Dong Won Kim ist ein selbstbewusst artikulierender Cassio – beeindruckend in den geforderten Stimmlagen, höhensicher und durchsetzungsfähig in den Ensembles! Mit der selbstbewussten Emilia Maren Engelhardts, dem sonor auftrumpfenden Mario Klein als Lodovico und den Szene gestaltenden Rodrigo und Montano von Janos Ocsovai und Krzysztof Borysiewicz sind in der Oper Kassel bemerkenswerte Stimmen zu erleben.
Das – nach jahrzehntelangen Versuchen avancierten Musiktheaters immer noch an „Überforderung“ leidende - Kasseler Opern-Publikum verfolgt das Drama mit enormer Hingabe, akzeptiert das Bühnen-Ambiente - und applaudiert am Ende engagiert und lang anhaltend.
Franz R. Stuke
|