Semiseria perfekt
Die geniale Idee: Milos Formans 1975er Meisterwerk „Einer flog über das Kuckucksnest“ als Vorlage! Eine Psychiatrie als Insel der „furiosi“! Und da tauchen sie alle auf , die skurrilen Chraktere - die Herren des Opernchores sind in ihrem Element, bis in die Haarspitzen motiviert spielen sie bis ins letzte Detail mit Inbrunst und darstellerischer Brillanz! (Man wird sich in Zukunft an diese exorbitante Chor-Leistung erinnern!) Die Hauptrollen sind in Aktionen, Attitüden, komplexen psychischen Strukturen der Filmhandlung kongenial entsprechend konzipiert, einzig die hysterisch-reuige Eleonora ist neu im Narrenhaus – ist aber eine effektvolle Bereicherung. Da ist es nur schlüssig, dass sie nach der Entlassung des „geheilten“ Cardenio in der Anstalt verbleibt.
Jee-Hyun Kim gibt dem Cardenio – wg. Untreue seiner Frau Eleonora wahnsinnig geworden – die Statur des indianischen Chief Bromden, verkörpert eine der wenigen Bariton-Hauptrollen Donizettis mit fulminanten Wechseln von „Ruhigstellung“ und wilden Ausbrüchen, dabei stimmlich kontrolliert und mit beeindruckender Phrasierungskunst. Bartolomeo (er ist der glänzend agierende Arzt) findet in Nicolai Karnolsky überzeugende stimmliche Durchsetzungskraft. Sergio Blazquez gelingen als Bruder Fernando ausdrucksstarke Passagen brillanten Belcanto-Gesangs. Deanne Wells verleiht der Pflegerin strenge Züge, besticht mit flexiblem Gesang. Hrachuhi Bassenz ist also pathologisch Bereuende mit einem Lamento nach dem anderen ausgelastet – aber ihr wunderschönes Singen wird zum emotionalen Ereignis und beweist die außerordentliche Fähigkeit der armenischen Sängerin für gefühlvollen Belcanto-Gesang. Und Melih Tepretmez gibt einen Kaidama, wie er Jack Nicholson live auf der Bühne wohl nicht zuzutrauen ist. Zudem liefert er eine sängerische Glanzleistung ab.
Das Gelsenkirchener Haus ist gut besucht zur Derniere, das Publikum unterhält sich glänzend und feiert das Ensemble am Ende überschwänglich.
Harald Thors intentionengerechte Bühne – der „Gemeinschaftssaal“ der Anstalt mit „Überwachungsstation“ und anschließender „Nasszelle“ sowie aufmerksamkeitsheischenden Details in Hülle und Fülle – sowie die akribisch-genauen Kostüme von Ulli Kremer sind ein Musterbeispiel für bewusst zitierende und zugleich distanzierende „Ausstattung“.
Cosima Sophia Osthoff geht mit der Neuen Philharmonie Westfalen Donizettis Partitur etwas grobkörnig an, lässt es am lockeren Fluss der Töne mangeln, erreicht bei aller Turbulenz auf der Bühne, dass die Sänger hinreichend Gelegenheit zum Aussingen ihrer Partien haben.
Ein weiterer Erfolg der Belcanto-Entdeckungen des Musiktheaters im Revier! (frs)
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