Leiden an der kaputten Welt
Standing Ovations direkt nach dem last curtain: das Dortmunder Publikum einen exorbitanten "Hoffmann" mit voller Begeisterung, allerdings mit der hysterischen Südtrobünen-Attitüde, ohne Sensibilität für die respektvollen Opern-Rituale. Es wird eine Zeit dauern, bis sich in Dortmund die connaisseurs durchsetzen und sensiblere Formen ihres Enthusiasmus artikulieren.
Ausgelöst wird der eruptive Beifallsorkan durch eine fulminant-innovative Inszenierung, fantastische Sänger und ein brillantes Orchester: Alexander Schulin zeigt einen genial-gebrochenen Hoffmann, der an einer Irrenhaus-Welt zugrunde geht. Detail-fixiert sind die vergeblichen Mühen um Liebe und Herzen mit drei hoffnungslosen Versuchen emotional erlebbar: immer ist das Objekt der Begierde irrelevant (Antonia todgeweiht, Olympia ein Automat, Giulietta eine Kurtisane), immer gibt es intervenierende Kontrahenten (Mirakel, Spalanzani, Dapertutto), und immer endet das leidenschaftliche Begehren im Tod. Niclausse - die Muse - ist ein unzuverlässiger Kumpel - und der allmächtige Lindorf wird zum Sieger.
Die sparsam-interpretierend die Bühnentechnik nutzende Bildwelt Christoph Sehls lässt Hoffmann aus der Opern-Kantine (nach einem Giovanni-Plakat: in Nürnberg) einsteigen in eine monströse Irrenzelle mit viel Volk und den drei Geliebten. Die Deutung ist klar: Hoffmann erlebt die Welt existentiell als Irrenhaus, deren Mechanismen er trunken hilflos ausgesetzt ist.
Der Chor des Theaters Dortmund agiert hochaktiv, unterstreicht kollektiv die ambivalenten Reaktionen auf Hoffmanns Frustrationen (Leitung Granville Walker). Geradezu sensationell die sänger-darstellerischen Leistungen: Timothy Richards als rauschhaft-suchendes Genie mit spinto-ähnlichen nuancenreichem Tenor; Sylvia Koke als hingebungsvoll-musikalische Antonia mit zu Herzen gehendem Timbre und topsicheren Höhen; Heike Susanne Daum als faszinierender Olympia-Automat mit präzis artikulierten Koloraturen; Elena Nebera als erotisierende Giulietta mit einem bezwingend voluminösen Mezzo; dazu eine darstellerisch agile, stimmlich nuancenreiche Maria Hilmes als Muse und ein detailversessenes Ensemble mit Simon Neal (Lindorf), Hannes Broch (Spalanzani), Tansel Akzeybek (Frantz) und Hans Werner Bramer (Schlemil).
Dirk Kaftan lässt mit den hochengagierten Solisten der Dortmunder Philharmoniker die szenisch vermittelten gebrochenen Emotionen musikalisch hörbar werden!
Zu monieren: die eher willkürlich aufleuchtenden Übertitel der Version mit Rezitativen, gesprochenen Dialogen und Gesang; das Programmheft mit beliebigen Texten von Burroughs, Heine, Poe, E.T.A. Hoffmann und Baudelaire - der kluge Aufsatz des Dramaturgen Christian Baier hätte ausgereicht (wenn er denn die genutzten Materialien der gekürzten, gestrichenen und umgestellten Fassung des Hoffmann-Torsos konkret benannt hätte). (frs)
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