|
Unkontrollierte Gefühle
Liebe und Treue, Misstrauen und Loyalität, Vertrauen und Rachedurst, aber
auch Mystik und Spaß treiben die dramatis personal in ausweglose Situationen.
Anthony Pilavachi inszeniert schon zur Ouvertüre das hoffnungslose Ende
einer Gesellschaft der unkontrollierten Gefühle, lässt aber ständig die
Sehnsucht nach Emotionen leben - und trifft damit das Sentiment der Verdi-Musik.
Raoul Grüneis folgt mit dem ausgewogenen Orchester des Staatstheaters
diesen Sentimenti, vermeidet knallige (Pseudo-)Verdi-Klischees, erzeugt
berührende Passagen, gibt den Personen musikalisch Charakter.
Die Darmstädter Solisten greifen die Chance zur individuellen Profilierung
ihrer Rollen allerdings eher zurückhaltend auf, verlassen sich doch lieber
auf eingespielte Attitüden. Gesanglich bewegen sich alle auf gutem Niveau:
Scott MacAllister hat eine schöne Stimme, doch fehlt seinem Tenor der
strahlende Schmelz, Mary Anne Krugers Amelia ist eine visuelle Offenbarung,
ihr weicher Sopran ist gut für die elegische Entsagung, etwas mehr dramatische
Power sollte das Ziel ihrer weiteren Entwicklung sein, Anton Keremidtchiev
ist ein statischer Ankastrom, wird als indisponiert angekündigt, bringt
aber seinen legatoreichen Bariton achtenswert über die Zeit, Barbara Meszaros
brilliert als Oscar, und Elisabeth Hornungs Ulrica lässt bei allem Wohlklang
das Mystische vermissen. Beachtenswert der auf symbolische Aktion vorzüglich
eingesellte Chor (Andre Weiss) mit vorzüglichem Gesamtausdruck.
Die eher kühle Bühne - Stufen, herabschwebende Elemente, keine Requisiten
- von Piero Vinciguerra lässt Raum für das assoziationsreiche Gefühlsgeschehen,
und die schwarz-roten Kostüme von Tatjana Ivschina verstärken die kommunikative
Dichte der Inszenierung.
Die geräuschvoll angekündigte "Uraufführung der Urfassung" bietet allerdings
für das Publikum wenig Überraschendes: dass Verdi aufgrund von Zensurbestimmungen
das Stück mehrfach umgearbeitet hat, ist bekannt, dass die Verlagerung
der Handlung nach Boston die praktizierte "Normal-Version" sei, geht aber
wohl an der aktuellen Aufführungspraxis vorbei. Ich habe jedenfalls in
den letzten zwanzig Jahren niemals Sam und Tom auf der Bühne erlebt oder
"Addio diletta America" singen hören. O.K., musikhistorisch sicherlich
von Bedeutung, aber ohne kommunikative Relevanz, vielleicht wäre es hilfreich
gewesen, Synopsen von Libretto- und Partitur-Passagen der gängigen Aufführungen
mit der Urfassung im Programmheft zu präsentieren!
Auch im Darmstädter Publikum sitzen sie: die Tempo-Sucher und geräuschvoll
Nutzenden, die Husenbonbon-Knisterer, die Übertitel-Vorlesenden, die tuschelnd
Kommentierenden und chaotisch Plätzesuchenden, doch ist das Wohlfühlen
im kultivierten Publikum garantiert: große Aufmerksamkeit, spürbare inner
Kommunikation, echte Begeisterung, abgestufte Zustimmung zu den Künstlern
ohne arrogante Distanz - das alles gibt es nicht in jedem Haus zu erleben.
Eben die "Kulturstadt" Darmstadt - vielleicht sollte das offenbar schlingernde
Stadtmarketing es mit diesem "label" versuchen! (frs) |
|