ÄSTHETIK DES WAHNSINNS
Auf der fast leeren Bühne eine verschneite Fläche, rechts und links schwarze Marmorwände; auf der Fläche eine wabernde Menge autistischer Wesen an Krückstöcken, die ab und zu ihre Hüte schwenkt. Für Regisseur Silviu Purcarete ist der allgegenwärtige Wahnsinn offenbar ein ästhetisches Problem.
Helmut Stürmers Ausstattung dient diesem Ansinnen, schafft die Räume für archaische Bilder -- ohne allerdings tiefere Emotionen authentisch zu vermitteln.
Das allerdings gelingt den Sängern par excellence -- Donizettis begnadetem Ingenium für Melodien, Harmonien und viel Verständnis für stimmlich Mögliches sei Dank! Sigrun Palmadottir artikuliert die Leiden der gepeinigten Lucia mit bewegendem Wechsel von Entsagung, hoffnungslosem Erwarten und verzweifelter Suche nach Erlösung. In der Wahnsinnsszene wird die dramatische Stimme mit bewegenden Höhen und (an-)klagendem Duktus zum hinreißenden Ausdruck nicht-ertragbaren Leidens. Aris Argiris ist ein unbarmherziger Enrico mit enormem Volumen und aggressiven Attacken. Bülent Külekcis Edgardo besticht durch lyrische Reinheit und flexible Kraft in der kämpferischen Attitüde und der totalen Verzweiflung. Arturo Martin gibt dem Arturo brillanten Belcanto-Glanz; Martin Tzonev, Anjara I. Bartz und Georg Zingerle charakterisieren den Raimondo, die Alisa und den Normanno mit prägend-typengerechter Artikulation – von „Nebenrollen“ kann nicht die Rede sein!
Der Chor des Theaters Bonn steigert sich zu brausendem Gesang, vermittelt kollektive Wahnsinns-Phänomene mit hoher emotionaler Intensität.
Das disziplinierte Beethoven Orchester Bonn wird von Erich Wächter dynamisch geleitet, demonstriert die stupende Fähigkeit zu vollendetem Zusammenspiel – und gibt einzelnen Instrumenten Gelegenheit zur virtuosen Präsentation.
Das Publikum in der Bonner Oper folgt sehr konzentriert -- es wird nicht mal gehustet! Der Schlussapplaus ist bemerkenswert kräftig und langanhaltend. (frs)
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