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Provisorisch
Als dritte Premiere präsentiert die Bonner Oper diese Spielzeit das Musical
"Anatevka" von Jerry Bock, ein Stück, das seit seiner deutschsprachigen
Erstaufführung 1968 in Hamburg von vielen Stadt- und Staatstheatern nachgespielt
wurde. Mit diesem Stück wird landläufig das gemütliche Bild Anatekas (einem
Dorf irgendwo in Rußland um 1905) mit seinen (mehr oder weniger) schrägen
Bewohnern verbunden, die am Ende aus ihrer angestammten Heimat vertrieben
werden.
Diese Klischees vermeidet Kirsten Harms in ihrer Inszenierung konsequent.
Die bittersüße Geschichte eines Judenpogroms wird nicht in einem naturalistischen
Bühnenbild, sondern in einem leeren Theaterraum inszeniert. Die Schauplätze
werden nur angedeutet, alles ist provisorisch, und die Figuren leben aus
dem Koffer. Im Laufe der Vorstellung wird deutlich, dass Anatevka viel
weniger ein geographischer Ort, sondern vielmehr eine gemeinsame Lebensanschauung
ist.
Das, was die Figuren miteinander verbindet, ihre Freundschaften sowie
ihre kleinen Feindseligkeiten, definieren und terminieren Anatevka viel
deutlicher als ein Punkt auf einer (fiktiven) Landkarte. Die Vertreibung
am Ende erhält bei dieser Interpretation schärfere Konturen: Denn waren
die Bewohner von Anatevka während des Stückes ein Verband (vorwiegend)
solidarisch handelnder Figuren, wird dieser durch die Vertreibung lediglich
zu einem Konglomerat versprengter Individuen.
Diesem Prozess geht Kirsten Harms auf den Grund. Ausgelassenheit und Existenzängste
wechseln in diesem Stück plötzlich einander ab, greifen ineinander und
bedingen sich gegenseitig. Die große Leistung der Regie besteht darin,
dass sie den Ursachen für diese Stimmungswechsel sensibel schildert, so
dass die Aufführung weder zu einem larmoyanten Rührstück, noch zu einer
plakativen Posse verkommt.
Musikalisch hinterließ die Produktion einen eher unausgeglichenen Gesamteindruck.
Das zeigte sich besonders in den großen Chören und Ensembles: Die elektronisch
verstärkt singenden Solisten dominierten den unverstärkten Chor, so dass
kein homogener Klang entstehen konnte. Hinzu kamen Unstimmigkeiten im
Orchester, das unter der Stabführung von Wolfgang Lischke eher kantig
musizierte.
Bei dem aus (Opern-) Solisten Schauspielern und (Opern-) Chorsängern bunt
zusammengewürfelten Solistenensemble zeigten sich leider deutlich qualitative
Unterschiede in der musikalischen wie sprachlichen Gestaltung. Besonders
evident wurde das bei den Rollen der Golde (Barbara Teubner) und des Mottel
(Mark Rosenthal).Während Barbara Teuber als Golde ihren Charakter sehr
feinsinnig ausmodelierte, ließ ihre musikalische Interpretation der Rolle
doch einiges zu wünschen übrig. Mark Rosenthal behandelte seine Dialoge
wie ein klischeehafter Opernsänger: seine Diktion war überdeutlich, was
zur Folge hatte, dass seine Rolle des Mottels sehr pathosbeladen daher
kam und dadurch einiges an Glaubwürdigkeit einbüßte. Dafür war er stimmlich
sehr präsent und wartete mit einer sehr sinnhaften musikalischen Gestaltung
seiner Rolle auf. Überragend war allerdings Tom Zahner in der Rolle des
Tevje. Er spielte die Rolle des Milchmanns ohne jedes Klischee und vordergründiges
Buffonieren. Er ist hier nicht der gemütliche, bauernschlaue Milchmann,
sondern ein aufrichtiger, tief gläubiger Vater, dem das Schicksal seiner
Familie am Herzen liegt, und der ständig sich, seinen Glauben und seine
Traditionen hinterfragt, letztenendes sich aber doch ihnen beugt und daran
zerbricht.
Insgesamt zeigt die Aufführung, dass man auch im Genre Musical eigene
Wege gehen kann und nicht zwingend auf schablonenhafte Stereotypen zurückgreifen
muss. (tk) |
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