Aggression – Sexualität – Brutalität
Fixiert auf den Visconti-Film von 1960 präsentiert Ivo van Hove statt des politisch bestimmten Neorealismus’ brutales Theater mit kaputten Typen, imaginiert verstörte Menschen, die zu Tieren werden, mit verstörender Intensität – verzichtet aber auf die radikale Wut über die herrschenden gesellschaftlichen Zwänge. Es verbleibt bei der Boxkampf-Metapher, grandiosen Szenen körperlicher Aggressivität, geradezu Atem nehmender Vergewaltigungsszenen, Momenten des unbegriffenen Innehaltens – verweigert sich aber der Frage nach den Gründen der menschenverachtenden Gewalt. Zu Zeiten eines aus den Fugen geratenen Raubtierkapitalismus wirkt das fast schon wie der Rückzug auf ethnisch bedingte individuelle Erklärungsmodelle – mit knochentrocken theoretisierenden Ciro-Reflexionen am Schluss: man sollte seine Rechte kennen, um agieren zu können. Das ist vernünftig, aber nicht revolutionär. Und so widerspricht die bisweilen kaum erträgliche Gewalt auf der Bühne der didaktischen „Botschaft“ des Stücks.
Harry de Wit entwirft zu diesen Exzessen physischer und psychischer Gewalt ein staunenswertes Panoptikum von Musik, Tönen und Geräuschen: Alltagsgegrummel aus der Ferne, Keyboard-Ostinati, elektronisch-akustische Rückkopplungen mit hämmernder Power, zarte Gitarrenklänge, eingespielte Chansons, variabel eingespielte Geräusche – alles im Dienst der permanenten Bühnen-Gewalt.
Jan Versweyveld baut eine Stahlrohr-Konstruktion mit vier „Spieltürmen“ um ein Podest, das Boxring ist und im Mittelpunkt der vier Zuschauerblöcke steht, Gänge nach außen freilässt – und die Atem raubende Industriearchitektur der Jahrhunderthalle geradezu kongenial aufgreift.
Die grandios agierenden Schauspieler (Fedja van Huet – Rocco; Rene van Zinnicq Bergmann – Vincenco; Hans Kesting – Simone; Alwin Pulinckx – Ciro; Stef Aerts – Luca; Celia Nufaar – La Mamma; Halina Rejin – Nadia; und die übrigen Ensemblemitglieder in den kleineren Rollen) überzeugen durch intensiv körperbetontes Spiel – irritieren allerdings durch ihr flämisch gefärbtes Deutsch.
Das geduldige Publikum übersteht die nicht enden wollende langatmige Exposition der dramatischen Geschichte, sucht nach Motivationen des brutalen Geschehens, wird aufgeschreckt durch knallige Action, versucht den calabresisch-lombardischen Kultur-Konflikt nachzuvollziehen, erinnert sich an Alain Delon, hält drei Stunden ohne Pause tapfer durch – und resümiert entweder „Drei Stunden verlorene Lebenszeit“ oder „Das war aber spannend – nur zu lang“. Und – bei allem Respekt vor inszenatorischer Kunst, musikalischem Wagemut und schauspielerischer Selbstentäußerung – so war’s dann auch. (frs)
Points für
Schauspiel/Sprache:
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