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Nicht genug geliebt
Die Geschichte spielt im Leben der osteuropäischen Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Lehrer Mendel Singer ist fromm und stellt sein Leben in den Dienst seines Glaubens. Er hat vier Kinder und lebt im russischen Schtetl Zuchnow. Zwei seiner Söhne werden in die Armee des Zaren einberufen. Der eine Sohn entscheidet sich für die Armee, der andere desertiert und flieht nach Amerika. Die Tochter Mirjam sieht in ihrer Attraktivität ein Mittel, aus der Provinz zu entkommen. Der jüngste Sohn Menuchim ist behindert, kann nicht sprechen und nicht laufen. Mendel sieht in der Behinderung eine Prüfung Gottes und ist gegen eine ärztliche Behandlung. Als sich Mirjam mit Kosaken einzulassen droht, fasst Mendel den Entschluss, seinem Sohn nach Amerika zu folgen. Menuchim muss er in Russland zurücklassen, da er als Behinderter nicht einreisen darf. In Amerika ereilen Mendel harte Schicksalsschläge: seine beiden Söhne fallen im Krieg, seine Frau stirbt vor Kummer, und seine Tochter wird wahnsinnig. Anders als der biblische Hiob kann Mendel in den Schicksalsschlägen keinen Sinn entdecken und bricht mit Gott. Er verbrennt seine Gebetsriemen. Jetzt erkennt Mendel die Ursache des Leidens: „Wir haben nicht genug geliebt.“ Nicht der fehlende Glaube an Gott, sondern die fehlende Liebe zu den Menschen ist der Grund des Leidens. Mendel will „fortan unter Menschen wohnen“ und verbringt seine Tage nicht mehr mit Beten, sondern mit Gelegenheitsarbeiten. Da geschieht das Wunder: Unerwartet taucht beim Passah-Fest sein Sohn Menuchim auf. Er ist gesund und inzwischen ein erfolgreicher Komponist und Dirigent. Dieser nimmt Mendel mit in sein Hotel und Mendel nimmt sich vor, nicht mehr sein trauriges Schicksal zu beklagen, sondern „die Welt zu begrüßen“.
Johan Simons gelingt eine eindrucksvolle Inszenierung. Für die Tristesse der Provinz und gleichermaßen für die Tristesse der Metropole New York findet er intensive Bilder. Der schäbige Charme der von Bert Neumann gestalteten Bühne übertragen diese Empfindung der Verzweifelung am Leben, der Vorstellung einer Sackgasse, die in das Bild eines Karussells gekleidet ist. Die schauspielerische Leistung ist hervorragend. André Jung als Mendel Singer verdient es namentlich hervorgehoben zu werden. Ein glänzender Theaterabend der Ruhrtriennale.
Stefan Ulbrich
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