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SEELISCHER TOD
Wenn in Verdis Otello der Held und
Desdemona nicht im blutrünstigen show down enden - dann tobt der selbstgerechte
Opern-Ignorant. Und so geschah es nach Barbara Beyers spektakulärer Inszenierung
im Bielefelder Haus: Otello, unbegriffener Aufsteiger in eine dekadente
Führungsclique, übergießt sich in dramatischer Erkenntnis seiner Identitätstragödie
mit einem Eimer schwarzen Schlamms: das Publikum gröhlt vor Widerwillen
- und verweigert jegliches Verständnis für eine plausible Deutung eines
sozial-individuellen Dramas.
Christoph Ernst baut eine Bühne auf der Bühne mit den handelnden "Honoratioren"
und dem danebenstehenden Volk und dessen emotionalen Reaktionen, mit 50er
Jahre Sitzgruppe und begrenzender Fototapete (Klippen mit tosendem Meer).
Nachvollziehbar: eine verunsicherte Gesellschaft nach der großen Krise,
eine alkoholisierte Führungsschicht mit intrigantem Verhalten; darin Otello
als chancenloses Opfer einer machtbesessenen Desdemona: das lässt sich
historisch ableiten. Individuell erklärbar: Otello scheitert an den Verhältnissen,
er kann Desdemona nicht einmal erwürgen - er "versteinert" und Desdemona
kehrt starr in die Szene zurück. Ob es jemals eine Liebe gegeben hat,
bleibt offen - auf alle Fälle: zwei Lebensentwürfe sind existentiell gescheitert.
Warum ein eigentlich an Experimente gewöhntes Publikum in Bielefeld sich
die Lungen aus den Hälsen brüllt, mag auch an der "neuen Sicht" auf ein
scheinbar bekanntes Sujet liegen; aber ein weiteres Motiv sind die zahlreichen
plumpen slap-stick-Einlagen, provokative Einlagen, die den Blick auf die
innere Dramatik verstellen.
Dabei geht im tosenden Jubel um Orchester, Chor und Solisten auch unter,
dass Musik und Gesang total integriert sind in das offenbar verinnerlichte
Regie-Konzept: Peter Kuhn ist mit dem Philharmonischen Orchester weit
weg von allem platten Heroismus, interpretiert Verdis Spätwerk mit viel
individuellem Einfühlungsvermögen.
Da ist Joo Il Chois Jago mit intensivem Spiel und emotionalem Bariton
ein sklavisch-kriechender Parvenü und die phantastische Karine Babajanyan
eine affektierte high-society-Dame (faszinierend wie sie beim Weidenbaum-Lied
ihre Nägel lackiert!) auf der Suche nach maskuliner Begleitung zur Macht!
Ein seidenweicher Sopran, in der Intonation absolut sicher und in der
Phrasierung höchst differenziert. Stefano Algieris Timbre entspricht genau
dem gebrochenen Otello - ein Heldentenor mit bombensicheren Höhen und
bezwingender Kraft. Den hohen Standard des Bielefelder Hauses bestätigt
die hochkompetente Besetzung der kleineren Rolle, die mit Luca Martins
Cassio und Hans Griepentrogs Lodovico internationales Niveau erreicht.
Die Wut von 750 Premierengästen in orkanartigen Ausmaßen ist zweifellos
ein Armutszeugnis für das Auditorium. (frs)
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