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BEDRÄNGEND OHNE SPANNUNG
Modernes Musiktheater wird faszinierend,
wenn es nicht um intellektuelle Experimente, sondern um intensive neue
Formen des "Kraftwerks der Gefühle" geht - das Publikum ist erwartungsbereit,
offen für grundlegend Neues. Vinko Globokar hat im risikobereiten Bielefelder
Theater die großartige Chance, sein musikalisch aktionsorientiertes, theoriegeleitetes
"Lehrstück" zum Leiden an kollektiver Gewalt realisiert zu erleben. Wie
bei Nonos "Intolleranza" und Lachenmanns "Schwefelhölzern" geht es um
das qualvolle Leiden des Individuums unter gesellschaftlicher Brutalität
- artikuliert durch verstörende Instrumentenklänge, Geräusche, Stimmen,
unkonventionelle Töne und unerwartete Musikelemente. "Musik" wird zur
politischen Argumentation, ästhetisch umgesetzt und individuell bedrängend
erlebbar.
Dirk Kaftan gelingt es mit dem innovationsbereiten Philharmonischen Orchester
der Stadt Bielefeld, diese komplexen Intentionen differenziert sinnlich
umzusetzen: Bedrohung und Gewalt werden hörbar und geraten über das Ohr
in den reflektierenden Prozess des überwältigenden Gefühls.
Doch konzipierte Vinko Globokar ein Miteinander von Musik, Darstellung
und Malerei: In Bielefelds Uraufführung versetzt Arial Siegert Solisten,
Chöre und Ballett in einen stupenden Furor von Leid und Gewalt: extreme
Körperlichkeit wechselt mit invers gerichteter Reflexion. Helge Leiberg
malt live per Folienprojektion assoziative Farben und Strukturen auf die
Bühne, mit komplexen Techniken und intensivem Assoziationspotential.
Die variable Bühnenarchitektur - Treppen, Kletterwand, drei Ebenen - von
Marie-Luise Strandt ist zugleich bedrängender Spielraum und Projektionsfläche
der Leiberg-Bilder, die wiederum "flüchtig" sind wie die Musik.
Mit Espen Fegran, Grzegorz Zozicky, Clemens C. Löschmann, Meryl Richardson,
Sharon Markovich, Jenny Renate Wicke und der phantastischen Bonita Hyman
agieren und singen engagierte Solisten voller Leidenschaft und dokumentieren
mit ihrer Leidensfähigkeit die Grundidee des Werks auf beeindruckende
Weise. Video-Installationen in den Foyers, Platzierung der Musiker auf
den Rängen, der Maler im Parkett: alles zusammen ergibt eine selten erlebte
Intensität des Erlebens.
Bei der Premiere überwiegt ein fachkundiges, emotional ansprechbereites
internationales Publikum, das allen Beteiligten lang anhaltenden Beifall
spendet - während vor dem Theater die Spaßgesellschaft im realen und musikalischen
trash versinkt. (frs)
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