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Fakten zur Aufführung 

ALCINA
(Georg Friedrich Händel)
10. Juli 2015
(Premiere am 3. Juli 2015)

Festival Aix-en-Provence


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Erotisches Gesellschaftsdrama

Katie Mitchell, der Regisseurin dieser Neuinszenierung des Festival von Aix-en-Provence, gelingt eine spannende, inhaltsreiche Umsetzung von Georg Friedrich Händels Opera seria Alcina. Es ist beeindruckend, wie sich die Engländerin dieser klassischen Geschichte um Liebe und Leidenschaft nähert und daraus einen Krimi wie aus einem Hollywood-Film schafft. Dabei zeichnet sie auch eine feministische Studie der modernen Gesellschaft mit ihrer Suche nach Lust, ewiger Jugend und Oberflächlichkeit.

Alcina und ihre Schwester Morgana, beide merklich gealtert, regieren matriarchalisch auf ihrer Insel und leiten ihre Macht von ihren Zauberkräften ab. Ihr Palast gleicht einem ebenso gealterten Industriebau auf zwei Ebenen, nur der zentrale Salon ist ein prachtvoller, hell erleuchteter herrschaftlicher Raum – das Bühnenbild stammt von Chloe Lamford. In der Mitte steht das Bett als Symbol für die zwanghafte Suche nach Leidenschaft. Hier werden die gestrandeten Männer zu willenlosen Objekten der vermeintlichen Liebe unter Einbezug aller Sexualpraktiken mit entsprechender Sadomaso-Ausstattung. Frappant der Regieeinfall,  die beiden Herrscherinnen beim Eintritt in den Salon zu jungen, verführerischen Nymphomaninnen umzuwandeln. Ein Effekt, der auch im finalen Untergang als Ausdruckselement eingesetzt wird, als diese Verwandlungskraft erlischt und die beiden in zwei Schaukästen ausgestellt werden, die zuvor die Gefängnisse ihrer zu Tieren verwandelten Liebhabern dienten. So beschrieben, passiert viel auf der Bühne in einem ständigen Fluss einzelner Bilder. Kein Klamauk oder barocker Plüsch, sondern ein erotisch gespickter Thriller mit Peitsche, Fesseln und Fetisch, sowie Revolver, Maschinengewehr und Dynamit. Das Publikum wird zum geforderten Zuschauer, der gepackt der Entwicklung dieser Kriminalgeschichte folgt, die in der Zerstörung und Befreiung der gefangenen Liebhaber durch Bradamante, der Geliebten des verzauberten Ruggiero, und ihren Gefolgsmann Melisso reißerisch endet.  

Da wird es zur Herausforderung an Sänger und Orchester, allen voran Andrea Marcon als Dirigent, auch eine musikalische Spannung für den Zuhörer zu schaffen. Der Italiener kommt im Dirigat des Freiburger Barockorchesters nicht in Schwung, es wirkt hölzern und matt schleppend aus dem Graben. Die solistische Begleitung bleibt oft gering akzentuiert. Lustvoll verinnerlicht sind das Spiel und der Gesang auf der Bühne. Allen voran Patricia Petibon als sexy macht- und lusthungrige Alcina. Wann hat man schon einen Orgasmus so überzeugend gesungen gehört? In ihrer Arie Ah mio cuor gelingt ihr die Gratwanderung zwischen Lyrik und Dramatik. Sie bietet viel an diesem Abend, und ihre Stimme lässt die Grenzen in den Tiefen und Höhen erkennen. Philippe Jaroussky hat als Countertenor die anspruchsvolle Rolle des Ruggiero übernommen, die er sehr einfühlsam-verführerisch umsetzt. Stimmlich zeigt er die Anstrengungen der temporeichen Koloraturen und Sprünge. Durch den Zauber gebannt spielt er marionettenhaft, lässt sich mehrmals geduldig aus- und anziehen und wacht erst langsam aus seiner Verzauberung auf. Anna Prohaska bleibt als Morgana farblos, und auch die Peitschenhiebe bringen sie nicht in die gewünschte Höhe. Anthony Gregory hat eine schöne Tenorstimme, aber es fehlt ihr die Flexibilität in den barocken Koloraturen und der Tiefe. Liebling des Abends ist zweifellos der Tölzer Sängerknabe Elias Mädler. Als der Junge Oberto mit Teddybär und kleinem Köfferchen singt er sich rührend und technisch sicher zu Recht in die Herzen aller Zuschauer. Diese belohnen begeistert am Ende mit heftigem Applaus das gesamte Ensemble.

Helmut Pitsch

 

Fotos: Patrick Berger