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BACKSTAGE

3 FRAGEN-3 ANTWORTEN


Clemens Birnbaum

Der studierte Musikwissenschaftler und Germanist Clemens Birnbaum war zunächst als freier Publizist tätig und arbeitete später als Musikdramaturg am Stadttheater Gießen. 1996 übernahm er das Management der Akademie für Alte Musik Berlin, einem der führenden deutschen Originalklangensembles. Danach war er mehrere Jahre als freier Dramaturg tätig (Musikfestspiele Potsdam Sanssouci, Ludwigsburger Schlossfestspiele, Dresdner Musikfestspiele u.a.), bis er im Jahr 2000 als stellvertretender Intendant in künstlerischen Fragen und Chefdramaturg zu den Dresdner Musikfestspielen ging. Im Jahr 2002 wechselte er nach Dessau, wo er als Intendant des Kurt Weill Festes und Direktor des Kurt-Weill-Zentrums von 2003 bis zum Sommer 2009 wirkte. Seit 1. August 2009 ist Clemens Birnbaum Direktor der Stiftung Händel-Haus und Intendant der Händel-Festspiele in Halle (Saale).


 

Backstage-Archiv

Das Backstage-Archiv ist alphabetisch nach den Nachnamen der Gesprächspartner geordnet.

 

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Ein früher christlicher Ökumene

In diesen Tagen wird das Programm der Händel-Festspiele des kommenden Jahres vorgestellt. Im Mai und Juni finden über 100 Veranstaltungen in der Geburtsstadt des Komponisten Georg Friedrich Händel an verschiedensten Spielorten statt. Clemens Birnbaum ist Direktor der Stiftung Händel-Haus und Intendant der Händel-Festspiele.

Opernnetz Der Opernspielplan der Händel-Festspiele 2012 umfasst die wichtige Wiederentdeckung der Oper Poro, Re Dell’Indie. Warum haben Sie sich hier für eine konzertante Aufführung entschieden?

Clemens Birnbaum Die Stiftung Händel-Haus wirkt auch an der Erstellung der quellenkritischen Ausgabe der Werke Händels mit, die unter dem Namen Hallische Händelausgabe bekannt ist. Die Editionsleitung sitzt im Händel-Haus. In dem Zusammenhang sind wir stets darum bemüht, die Erstaufführungen neu erschienener Bände zu den Händel-Festspielen in Halle zu realisieren. Ich finde, dass dies ein sehr gutes Beispiel ist, wie Wissenschaft und Praxis Hand in Hand gehen. Der Opernband Poro der Hallischen Händelausgabe ist nun mit der Erstellung des Notenmaterials fertig, und das war Anlass, die Aufführung dieser Oper ins Programm zu nehmen. Übrigens: Auch die Opernproduktion Alcina gemeinsam mit der Oper Halle ist eine Erstaufführung nach der Hallischen Händelausgabe, und in weiteren Aufführungen wird die Hallische Händelausgabe verwendet, zum Beispiel bei der szenischen Aufführung von La Resurrezione im historischen Goethetheater von Bad Lauchstädt. Aber die Wahl auf Poro hat natürlich auch damit zu tun, dass wir mit dem Kammerorchester Basel und den hervorragenden Gesangssolisten wie Veronica Cangemi, Vito Priante, Kristina Hammerström, James Gilchrist und David Wilson-Johnson unter Leitung von Enrico Onofri eine spannende, vielleicht sogar eine Referenzaufnahme erwarten können. Also, neue wissenschaftliche und editorische Erkenntnisse und die Qualität der Ausführenden haben die Wahl auf Poro bestimmt.

Opernnetz Sie haben einen Kompositionswettbewerb zum Thema Concerto Grosso ausgeschrieben und konfrontieren Händel in einer Reihe von Veranstaltungen mit der Musik von heute. War Händel in seiner Zeit Ihrer Auffassung nach ein moderner Komponist?

Birnbaum Der Kompositionswettbewerb, von dem Sie sprechen, geht ursächlich von der Kunststiftung Sachsen-Anhalt aus. Aber selbstverständlich war die Stiftung Händel-Haus in die Idee eingebunden und hat diese befürwortet. Ich denke, es ist eine spannende Aufgabe und Fragestellung, wie ein heute lebender Komponist mit formalen oder strukturellen Aspekten der Musik der Barockzeit oder Händels umgeht. Das kann kompositorische Ergebnisse befördern, die  nachhaltig wirken. Es ist ja nicht neu, dass sich Komponisten mit der Musik ihrer Vergangenheit auseinander gesetzt haben und daraus eine neue Kompositionssprache für die Gegenwart entwickelt haben. Denken Sie beispielsweise an den Neoklassizismus in Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und an die in diesem Zusammenhang entstandenen Werke von Strawinsky. Ob uns dies auch im Falle der Neukompositionen von Concerti grossi à la Händel gelingen wird, wissen wir natürlich nicht. Interessant ist, dass die Kunststiftung Sachsen-Anhalt ein sehr positives Feedback auf die Ausschreibung erhielt. Und mit den Preisträgern können wir Uraufführungen von zwei wirklich spannenden Komponisten, namentlich Claire-Mélanie Sinnhuber und Jan Masanetz, aus Frankreich und Deutschland präsentieren. Auch unsere Uraufführung von "Händels Schatten", einer entstehenden Figurentheater-Produktion mit Musik von Händel, Bach, aber auch mit Neukompositionen von Hans Rotman geht diesen Weg. Und dass wir als Koproduktionspartner hierfür das Impuls Festival für Neue Musik gefunden haben, zeigt, dass wir Händel auch in einen Kontext mit dem Werk lebender Komponisten stellen möchten. Denn darum geht es uns: Wir wollen nicht Händel mit der Musik anderer Komponisten konfrontieren, sondern kontextualisieren, das ist unsere Zielrichtung.

Ihre Frage, ob Händel ein moderner Komponist war, ist nicht einfach zu beantworten. Zunächst müsste man beantworten, welche Vorstellung der Moderne man zugrunde legt. Wie Sie vermutlich wissen, hat es seit Monteverdi - und möglicherweise bereits früher - immer wieder Diskussionen gegeben, in der eine alte Musik einer modernen gegenübergestellt wurde. Die prima und seconda pratica um 1600 sind hierunter zu zählen. Oder denken Sie an Rousseaus "Dissertation sur la musique moderne", um nur einige Beispiele anzuführen. Die Komplexität der Fragestellung wird noch anschaulicher, wenn ich darauf verweise, dass ein Großteil der Libretti, die Händel vertonte, aus der Zeit vor Händels Geburt stammen. Natürlich wurden diese für Aufführungen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts umgearbeitet. Und dennoch: Viele Strukturen der Textbücher weisen auf die Zeit davor und man könnte Händel hier fast als "unmodern" bezeichnen.

Wenn die Frage aber lautet, hat Händel mit seinen Werken den Musiknerv seiner Zeit getroffen, dann kann man das uneingeschränkt mit ja beantworten. Es gibt kaum einen anderen Komponisten seiner Zeit, der so populär war, wie Händel. Belege hierfür sind u.a., dass kein Künstler seiner Zeit so oft porträtiert wurde wie Georg Friedrich Händel, und über Händel erschien die weltweit erste Monographie über einen Komponisten. Auch nach seinem Tod wurde seine Musik weiterhin aufgeführt, was ebenfalls ein Beleg dafür ist, dass sein Werk sehr populär war. Wenn man den Einfluss Händels auf das Schaffen späterer Komponisten hinzunimmt, dann könnte man daraus sogar ablesen, dass Händel seiner Zeit ein wenig voraus war. Denken Sie an Mozarts und Mendelsohns Beschäftigung mit der Musik Händels und deren Bearbeitungen. Wenn man die Moderne auf die so genannte Klassische Moderne der 1920er Jahre bezieht, dann sind auch hier Verbindungen zu Händel zu ziehen: Die Wiederentdeckung der Opern Händels in den frühen 1920er Jahren fällt zusammen mit einem Aufbruch der jungen Komponistengeneration, ein neues Musiktheater in Opposition zum Gesamtkunstwerk Richard Wagners und der Romantik zu schaffen. Händels Opern zeigten hier neben anderen Barockopern formal neue Wege auf. Hier wirkte Händels Werk, ohne dass er dies wollte, geschweige denn ahnte, geradezu auf die Moderne ein. In diesem Sinne ist Händel tatsächlich ein moderner Komponist. Und wir gehen bei den Händel-Festspielen diesen Weg weiter, indem wir beispielsweise in unserer Barock Lounge Barockmusik mit elektronischer Musik aus der Clubszene vermischen.

Opernnetz Der Titel einer thematischen Reihe lautet „Händel und die Konfessionen“. Im Gegensatz zu seinem von Frömmigkeit geprägten Zeitgenossen Johann Sebastian Bach scheint Händel nach außen die Üppigkeit barocker Lebenslust zu verkörpern. Spielen Glaube und Religiosität in seinem Werk denoch grundsätzlich eine Rolle und wenn ja, wie äußert sie sich?

Birnbaum Die Frömmigkeit Bachs ist eine protestantische Frömmigkeit, die sich bei Händel auch in seiner Brockes Passion widerspiegelt. Dies Werk führen wir selbstverständlich im Rahmen der genannten Reihe auf. Die Üppigkeit barocker Lebenslust verkörpert hingegen das römisch-katholische Rom - und auch hierfür hat Händel viele Werke hinterlassen, unter anderem auch das Oratorium La Resurrezione, das katholischer nicht sein kann. Die Vertonungen biblischer Sujets im protestantischen beziehungsweise katholischen Bereich weisen deutliche Unterschiede auf. In italienischsprachigen Oratorien beziehungsweise Passionsoratorien, die der katholischen Tradition entstammen, tritt beispielsweise in der Regel Jesus als dramatische Person nicht in Erscheinung. Ebenso fehlen Choräle oder ein erzählender Evangelist und anderes mehr. Im Sinne des Konzils von Trient, das Mitte des 16. Jahrhunderts als Antwort auf den Siegeszug des Protestantismus einberufen wurde, hängt im Katholizismus die Erlangung des Seelenheils von Gott ab, aber auch vom tatkräftigen Mitwirken des Gläubigen selbst. In diesem Sinne können die italienischsprachigen Oratorien des Katholizismus dramaturgisch gesehen auch die Funktion erfüllen, im Sinne einer anschaulichen “Verhandlung” beziehungsweise eines Diskurses über ein bestimmtes Thema dem Gläubigen einen Weg aufzuzeigen, wie er selbst zur Erlangung seines Seelenheils einen Beitrag leisten kann. Für die dramaturgische Gestaltung des italienischsprachigen Oratoriums hat dies weitreichende Konsequenzen, beispielsweise indem nicht nur eine “Geschichte” nacherzählt wird, sondern auch allgemeine Betrachtungen einfließen können. Salopp gesagt, das katholische Oratorium ist ein großes Welttheater, das einen Vergleich mit der Oper in seiner theatralischen Art nicht zu scheuen braucht. Deswegen führen wir La Resurrezione von Händel auch szenisch im historischen Goethetheater von Bad Lauchstädt auf. Die Gegenüberstellung der beiden genannten Passionsoratorien - Brockes Passion und La Resurrezione - ist sehr spannend: Der Anlass, eine Passionsmusik zu schreiben, ist nahezu identisch; die Komposition stammt vom selben Komponisten; allerdings einmal für einen protestantischen und ein anderes Mal für einen katholischen Kontext geschrieben. Die Entstehung beider Kompositionen selbst liegt aber nicht einmal zehn Jahre auseinander. Man kann also hier die unterschiedliche Frömmigkeit einer Zeit in den verschiedenen christlichen Konfessionen wunderbar ablesen. Ergänzend hierzu haben wir bei den Händel-Festspielen noch ein weiteres katholisches Oratorium im Programm, das nahezu unbekannt ist: Alessandro Scarlattis Il Martirio di Santa Teodosia. Scarlatti hatte in Rom dieselben Gönner wie Händel, darunter Kardinal Pamphilj. Und er war nicht nur als Opernkomponist, sondern auch in seinen geistlichen Werken ein Bezugspunkt für Komponisten der nachfolgenden Generation, darunter auch Händel. In England schließlich hat Händel liturgische Werke für die Church of England komponiert. Und mit seinen Oratorien hat er biblische Stoffe verarbeitet, die in Theatern dargeboten wurden. Das wirklich Besondere jenseits der Frömmigkeit ist, dass Händel liturgische Musik für verschiedene christliche Konfessionen geschrieben hat, ohne zu konvertieren. Auch in London besuchte er die lutherische Kirche. Dadurch unterscheidet er sich beispielsweise von Johann Adolf Hasse oder Johann Christian Bach, die beide zum Katholizismus konvertierten. Ich finde dies ein spannendes Feld, und es zeigt, dass sich bei Händel trotz seines Glaubens Religiosität nicht auf eine Konfession fokussiert. Überspitzt gesagt: Händel ist vielleicht ein frühes Beispiel der christlichen Ökumene.

Die Fragen stellte Christian Schütte am 2.12.2011.